Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
»aber ich brauche meine Zigaretten.« Er war ein großer kräftiger Mann, jünger |301| als Mutter, nicht eben redegewandt. »Du musst mir deine geben.«
»Es tut mir leid, aber ich habe keine. Ich habe sie getauscht. Ich rauche nämlich nicht. Wenn wir nächste Woche bezahlt werden,
gebe ich Ihnen alle.«
»Was hilft mir nächste Woche? Nächste Woche hast du eine andere Geschichte zur Entschuldigung.« Der Wächter ließ seine Peitsche
um ihre Beine herumtanzen. Gesicht und Ohren waren rot angelaufen. »Ihr Ukrainer seid undankbare Schweine. Wir retten euch
vor den Kommunisten, wir holen euch in unser Land, wir geben euch zu essen, wir geben euch Arbeit. Aber ihr habt nichts anderes
im Kopf, als uns zu beklauen. Man muss euch Mores lehren. Für Parasiten wie euch haben wir einen Strafblock. Von Block F hast
du doch sicher schon gehört, oder? Und auch, wie gut wir uns dort um euch kümmern? Nicht? Na, bald weißt du es.«
Der Strafblock war berüchtigt. Er stand abseits an einer Seite des Lagers und bestand aus achtundvierzig engen, halb unter
der Erde liegenden fensterlosen Betonzellen. Aufrecht stehende Särge. Im Winter verschlimmerten Kälte und Regen die Qualen,
im Sommer führte die Hitze unweigerlich zu Dehydrierung. Man hatte gesehen, wie Leute halb wahnsinnig und bis aufs Skelett
abgemagert nach zehn, zwanzig oder gar dreißig Tagen dort herausgezogen wurden. Wer noch länger drinbleiben musste, kam, so
hieß es, nur noch tot wieder ins Freie.
»Bitte nicht!«, bettelte Mutter. »Haben Sie Erbarmen!« Sie zog Vera an sich und hüllte sie in ihren Rock ein. Sie standen
mit dem Rücken an der Wand. Der Wächter machte einen Schritt auf Mutter zu, noch einen und noch einen, sein Gesicht näherte
sich dem ihren. An seinem Kinn glänzten dünne blonde Härchen. Vermutlich war er kaum über zwanzig.
|302| »Sie sind doch ein so netter junger Mann«, bettelte Mutter mit allen ihr zur Verfügung stehenden deutschen Worten. Tränen
standen ihr in den Augen. »Bitte, haben Sie doch Mitleid.«
»Gut«, sagte er. »Wir haben ja Mitleid. Wir werden dich nicht von deinem Kind trennen.« Er wiegte sich im Gefühl seiner Macht.
»Du kannst mit deinem Kind in den Block gehen, Abschaum.«
»Warum machen Sie das? Haben Sie keine Schwester? Haben Sie keine Mutter?«
»Was fällt dir ein, von meiner Mutter zu reden? Meine Mutter ist eine deutsche Frau.« Er unterbrach sich, blinzelte, überlegte,
fand aber offensichtlich keine weiteren Worte. Vielleicht war es der Machtrausch, der ihn ins Stocken brachte, vielleicht
fehlte ihm einfach nur die nötige Fantasie. »Wir werden dir beibringen, wie man Kinder erzieht, damit sie nicht stehlen«,
sagte er schließlich. »Wir werden dich umerziehen. Und deinen Mann auch, falls du einen hast. Alle werdet ihr umerzogen.«
Die Dunkelheit um uns scheint Atem zu holen. Dann höre ich aus dem Bett unter mir ein Geräusch, einen fast erstickten, schniefenden
Laut. Ich liege ganz still, lausche ihm nach und bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht verhört habe, denn dieses Geräusch
höre ich zum ersten Mal in meinem Leben, ich habe es nie zuvor wahrgenommen und mich auch geweigert, es zu hören, weil ich
nicht für möglich gehalten habe, dass es so etwas überhaupt gibt. Aber jetzt höre ich es ganz deutlich: Meine große Schwester
weint.
Eines Tages werde ich Vera fragen, was in Block F geschah. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür. Oder vielleicht hat sie ja
Recht: Vielleicht gibt es wirklich Dinge, die man besser nicht wissen sollte, weil man dieses Wissen nie wieder |303| rückgängig machen kann. Mutter und Vater haben mir nie etwas über den Strafblock erzählt. Ich wuchs auf, ohne zu ahnen, welche
dunklen Abgründe in der menschlichen Seele lauern.
Wie haben sie es fertig gebracht, mit diesem entsetzlichen Geheimnis auf dem Herzen weiterzuleben? Wie ist es ihnen gelungen,
Gemüse anzubauen, Motorräder zu reparieren, uns zur Schule zu schicken und sich um unsere Noten Sorgen zu machen?
Sie haben es getan.
|304| 27.
Eine Quelle für billige Arbeitskräfte
»Papa, sei doch bitte vernünftig«, sagt meine große Schwester und knallt die Milchkanne auf den Tisch. »Du kannst nicht der
Vater dieses Kindes sein. Warum, glaubst du, ist sie weggerannt, als ich vorschlug, einen Vaterschaftstest machen zu lassen?«
»Ach, Vera«, sagt Vater, »du bist schon immer eine Autokratin gewesen, die in alles ihre Nase stecken
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