Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
natürlich 1935 abgerissen.«
»Wer wurde abgerissen?«
»Die Goldkuppelkathedrale des Heiligen Michael.«
»Wer hat sie abgerissen?«
»Die Kommunisten natürlich.«
Ha – es gibt also einen Subtext zu dieser romantischen Geschichte.
»Papa und Valentina lieben sich, Vera.«
»Was für einen Unsinn du redest, Nadia! Wirst du denn niemals erwachsen? Sie ist scharf auf einen Pass und auf eine Arbeitserlaubnis
und auf das restliche Geld, das er noch hat. Das ist doch sonnenklar. Und er ist von ihren Titten hypnotisiert. Er spricht
von nichts anderem mehr.«
»Er spricht auch ziemlich viel über Traktoren.«
»Über Traktoren und Titten. Genau.«
(Warum hasst sie ihn eigentlich so?)
»Und wie war das mit Mutter und ihm? Glaubst du, dass sie sich geliebt haben, als sie heirateten? Oder meinst du nicht, dass
das eher eine Vernunftehe war?«
»Das war etwas anderes. Es war eine andere Zeit damals«, sagt Vera. »Damals haben die Leute getan, was sie tun mussten, um
zu überleben. Arme Mutter – dass sie nach allem, was sie durchmachen musste, ausgerechnet bei Papa hängen blieb. Was für ein
grausames Schicksal.«
1930, als Mutter achtzehn war, wurde ihr Vater festgenommen. Es war zwar noch einige Jahre vor dem schrecklichen Höhepunkt
der Säuberungen, doch es geschah in der für |77| den Staatsterror klassischen Art – mitten in der Nacht klopft es an der Tür, die Kinder weinen, und meine Großmutter Sonia
Otscheretko im Nachthemd, das lange Haar aufgelöst und wirr, bittet und bettelt und fleht die Beamten an.
»Mach dir keine Sorgen«, rief Großvater ihr noch über die Schulter zu, als sie ihn abführten, ohne ihn auch nur etwas über
sein Nachtzeug überziehen zu lassen, »morgen früh bin ich wieder da!« Sie sahen ihn nie wieder. Man brachte ihn ins Kiewer
Militärgefängnis, wo man ihn beschuldigte, er habe heimlich ukrainische Nationalisten zum Kampf ausgebildet. Ob es stimmte?
Wir werden es nie erfahren. Es hat keinen Prozess gegeben.
Ein halbes Jahr lang begleiteten Ludmilla und ihre Geschwister Tag für Tag ihre Mutter mit einem Korb voller Essen zum Gefängnis.
Sie übergaben es der Wache am Tor und hofften, dass wenigstens etwas davon bei ihrem Vater ankommen würde. Eines Tages sagte
der Wachhabende: »Morgen müsst ihr nicht mehr kommen. Er braucht kein Essen mehr.«
Sie hatten noch Glück. Bei den Säuberungsaktionen der späteren Jahre wurden nicht nur die Täter, sondern auch ihre Familien,
Freunde und Bekannten – jeder, der irgendwie verdächtigt werden konnte, in das Verbrechen verstrickt zu sein – abgeholt und
zur Umerziehung in Lager deportiert. Otscheretko wurde exekutiert, doch seine Familie blieb verschont. Dennoch waren sie in
Kiew nicht länger sicher. Ludmilla wurde der weitere Besuch der veterinärmedizinischen Fakultät untersagt – sie war jetzt
die Tochter eines Volksfeindes. Ihr Bruder und ihre Schwester durften nicht mehr zur Schule gehen. Sie zogen zurück ins Dorf
und versuchten sich dort durchzuschlagen.
Und das war alles andere als einfach. Obwohl das Poltawa-Gebiet mit zu den fruchtbarsten Anbauflächen der Sowjetunion gehörte,
war die Landbevölkerung am Verhungern |78| . Im Herbst 1932 beschlagnahmte die Armee die gesamte Ernte und nahm sogar das Saatgut fürs kommende Frühjahr mit.
Mutter sagte, die auf diese Weise herbeigeführte Hungersnot sollte den Willen der Menschen brechen und sie zwingen, ihren
Widerstand gegen die Kollektivierung aufzugeben. Stalin war der Meinung, die von Natur aus beschränkten, habsüchtigen und
abergläubischen Bauern würden so zu anständigen proletarischen Genossen. (»Was für ein gottloser Unfug das war«, sagte Mutter.
»Das Einzige, woran die Leute noch dachten, war doch, wie sie ihr eigenes Leben retten konnten. Essen, essen und noch einmal
essen. Wer wusste denn, ob es am nächsten Tag noch etwas geben würde.«)
Die Bauern aßen ihre Kühe, Hühner und Ziegen. Später ihre Katzen und Hunde, dann Ratten und Mäuse. Dann gab es nichts mehr
zu essen, nur noch Gras. In der Ukraine fielen dieser von Menschen gemachten Hungersnot der Jahre 1932 bis 1933 sieben bis
zehn Millionen Menschen zum Opfer.
Sonia Otscheretko überlebte. Sie kochte dünne Suppen aus Gras und Sauerampfer, den sie aus den Feldern geholt hatten. Sie
grub im Boden nach Meerrettichwurzeln und essbaren Knollen und fand im Garten noch letzte Kartoffeln. Als auch die aufgegessen
waren, stellten
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