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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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sie Fallen auf für die Ratten, die unter dem Strohdach lebten. Erst aßen sie die Ratten, und dann aßen sie
     das Stroh, und sie kauten auf Zaumzeugleder herum, um die Hungerqualen zu betäuben. Wenn sie zu hungrig waren, um schlafen
     zu können, sangen sie:
    Hinter dem Hügel gibt es eine Wiese,
    eine Wiese, grün und prächtig,
    man glaubt sich fast im Paradiese.
    |79| Im Nachbardorf lebte eine Frau, die ihr Baby aufgegessen hatte und darüber verrückt geworden war. Nun irrte sie durch die
     Straßen und heulte und schrie: »Aber sie war schon tot. Es hat ihr nicht mehr wehgetan! So rund war sie! Das kann man doch
     nicht verkommen lassen. Ich habe sie nicht getötet! Nein! Nein! Sie ist von ganz allein gestorben!«
     
    Letztlich war es die Abgeschiedenheit ihres Dorfes, die sie rettete. Wenn sich überhaupt noch jemand über sie Gedanken machte,
     dann dachte er vermutlich, sie seien längst gestorben. Irgendwie gelang es ihnen 1933, eine Reiseerlaubnis zu erhalten und
     sich bis zu Sonias Schwester Shura nach Lugansk – das kurz darauf in Woroshilowgrad umbenannt wurde – durchzuschlagen.
    Shura, sechs Jahre älter als Sonia, war Ärztin. Sie hatte einen trockenen Humor, rot gefärbte Haare, eine Vorliebe für extravagante
     Hüte, ein rasselndes Lachen (sie rauchte selbstgedrehte Zigaretten aus eigenhändig angebautem Tabak) und einen ältlichen Ehemann   – Parteimitglied und Freund von Marschall Woroshilow   –, der Fäden ziehen konnte. Die beiden lebten am Stadtrand in einem altmodischen Holzhaus mit geschnitztem Dachgesims, blau
     gestrichenen Fensterläden und einem Garten voller Sonnenblumen und Tabakpflanzen. Shura, die selbst kinderlos war, stürzte
     sich begeistert auf Sonias Kinder. Als Sonia eine Stelle als Lehrerin fand und mit den beiden jüngeren Kindern eine kleine
     Wohnung in der Innenstadt bezog, blieb Ludmilla bei Tante Shura. Tante Shuras Mann besorgte ihr Arbeit in der Lugansker Lokomotivenfabrik,
     wo sie zur Kranführerin ausgebildet werden sollte. Ludmilla zeigte sich nicht sonderlich begeistert. Mit Kränen konnte sie
     nicht viel anfangen.
    »Mach es, Kind, mach es!«, drängte Tante Shura. »Dann wirst du Proletarierin.«
    |80| Anfangs fand sie diese großen Dinger, die auf ihr Kommando durch die Luft schwenkten, noch ganz spannend. Dann wurde es Routine.
     Dann todlangweilig. Und Ludmilla träumte wieder davon, Tierärztin zu werden. Tiere rochen nach Leben und fühlten sich warm
     an, und es war viel aufregender, mit einem Tier umzugehen, als die Hebel einer Maschine zu bedienen. (»Ach Nadia, verglichen
     mit einem Pferd ist ein Kran oder ein Traktor doch ein armseliges Ding!«) Die Tierärzte zu jener Zeit hatten nur mit großen
     Tieren zu tun – mit Tieren von Wert, wie ihn Kühe, Bullen, Pferde besaßen. (»Stell dir vor, Nadia, diese Engländer zahlen
     hundert Pfund, um einer Katze oder einem Hund das Leben zu retten – die kannst du doch auf der Straße umsonst auflesen. So
     eine Gutherzigkeit – verrückt!«)
    Sie schrieb einen Brief ans Institut nach Kiew und erhielt einen Packen Formulare zugeschickt, in die sie genau eintragen
     sollte, was sie, ihre Eltern und Großeltern beruflich machten und wo sie innerhalb der Klassenstruktur angesiedelt waren.
     Nur wer aus der Arbeiterklasse kam, durfte studieren. Ludmilla sandte schweren Herzens die ausgefüllten Formulare zurück und
     wunderte sich nicht, keine Antwort zu erhalten. Sie war dreiundzwanzig und hatte das Gefühl, mit ihrem Leben irgendwo in einer
     Sackgasse gelandet zu sein. Dann kam ein Brief von diesem seltsamen Jungen, mit dem sie zur Schule gegangen war.
     
    Hochzeiten und Beerdigungen sind die besten Bühnen für Familiendramen, weil sie Rituale, symbolträchtige Kostüme und jede
     Menge Gelegenheit für Snobismus in unterschiedlichsten Erscheinungsformen bieten.
    Laut Vera war Vaters Familie mit den Otscheretkos nicht einverstanden. Baba Nadia fand zwar, dass Ludmilla ein hübsches Mädchen
     war, aber sie war doch sehr ungefügig, |81| und dass ihr Vater ein »Volksfeind« war, war nun wirklich – gelinde gesagt – unselig.
    Baba Sonia wiederum hielt Vaters Familie für eigenartig und anmaßend. Die Majevskis gehörten zum kleinen Kreis der ukrainischen
     Intelligenzija. Großvater Majevski, Nikolais Vater, war ein hochgewachsener Mann mit wehendem weißem Haar und einer Brille
     mit kleinen Halbgläsern. 1918, während des kurzen Aufblühens der ukrainischen Unabhängigkeit, war er

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