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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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wirklich ein halbes Jahr
     lang Bildungsminister gewesen. Nachdem Stalin an die Macht gekommen war und alle Träume von einer autonomen Ukraine vernichtet
     hatte, wurde Majevski Leiter der ukrainischsprachigen Schule in Kiew, die aus Spendengeldern finanziert wurde und ständigem
     Druck der Behörden ausgesetzt war.
    In dieser Schule haben meine Eltern sich kennen gelernt. Sie waren in derselben Klasse. Nikolai war immer der Erste, der sich
     mit in die Höhe gerecktem Arm zu Wort meldete, immer Klassenbester. Ludmilla hielt ihn für einen unerträglichen Besserwisser.
     
    Nikolai Majevski und Ludmilla Otscheretko wurden im Herbst 1936 auf dem Standesamt von Lugansk getraut. Sie waren beide vierundzwanzig
     Jahre alt. Es gab weder goldene Kuppeln noch Glocken noch Blumen. Die Zeremonie wurde von einer grobschlächtigen Parteigenossin
     in einem flaschengrünen Kostüm mit nicht ganz sauberer weißer Bluse vollzogen. Die Braut war nicht schwanger und niemand weinte,
     obwohl es diesmal viel mehr Grund zum Weinen gegeben hätte.
     
    Haben sie sich geliebt?
    Vera sagt, nein, sie hat ihn nur geheiratet, weil sie keinen anderen Ausweg sah.
    |82| Vater sagt, ja, sie war die schönste Frau, die ihm je über den Weg gelaufen war, und die temperamentvollste. »Du hättest sehen
     sollen, wie dunkel ihre Augen werden konnten, wenn sie wütend war. Beim Eislaufen glitt sie dahin wie eine Königin. Und wenn
     man sie auf einem Pferd sitzen sah – einfach prachtvoll.«
    Ob sie sich geliebt haben oder nicht – jedenfalls blieben sie sechzig Jahre lang zusammen.
    »Sag mal, Papa, was weißt du denn noch von deiner Ludmilla? Wie war sie, als du sie zum ersten Mal gesehen hast?« (Ich versuche
     es mit einer Art Erinnerungs-Therapie. Irgendwie hoffe ich, wenn ich Bilder von Mutter in seinem Kopf heraufbeschwöre, werden
     sie Valentinas Bild überlagern und auslöschen.) »War es Liebe auf den ersten Blick? War sie sehr hübsch?«
    »Ja. Hübsch, in jeder Beziehung. Aber natürlich nicht so schön wie Valentina.«
    Da sitzt er und lächelt verträumt vor sich hin, silbrige Haarsträhnen hängen ihm über den zerfransten Hemdkragen, die Brille,
     mit braunem Paketband notdürftig repariert, ist ihm ganz vorn auf die Nase heruntergerutscht, so dass ich ihm nicht richtig
     in die Augen schauen kann, und seine arthritischen Hände hat er um einen Teebecher gelegt. Den ich ihm am liebsten aus der
     Hand reißen und ins Gesicht schütten möchte. Aber gleichzeitig sage ich mir, dass er keine Vorstellung – nicht die geringste
     Vorstellung! – davon hat, wie das, was er da sagt, bei mir ankommt.
    »Hast du sie geliebt?« (Ich meine natürlich, ob er sie
mehr
geliebt hat.)
    »Ach   … Liebe. Was ist das denn: Liebe? Wer kann schon sagen, was Liebe ist. Wissenschaftlich lässt sich das nicht erklären, nur
     poetisch.«
     
    |83| Zur Hochzeit lädt Vater uns nicht ein. Aber das Datum entschlüpft ihm trotzdem, als er sagt: »Nicht nötig momentan, dass ihr
     kommt. Es ist alles in Ordnung. Nach dem ersten Juni könnt ihr mal vorbeischauen.«
    »Das heißt, wir haben noch vier Wochen, um ihr einen Riegel vorzuschieben«, sagt meine Schwester.
    Aber ich bremse. Mich berührt seine Fröhlichkeit, seine wiedergefundene Vitalität. Und außerdem weiß ich ja auch, was Mike
     davon hält.
    »Vielleicht ist es doch nicht so schlecht. Vielleicht kümmert sie sich ja tatsächlich um ihn und beschert ihm noch ein paar
     glückliche Jahre. Das ist doch besser, als wenn er in einem Heim leben muss.«
    »Himmel noch mal, Nadia, du glaubst doch selbst nicht, dass eine Frau wie Valentina bei ihm bleibt, wenn er nur noch sabbert
     und inkontinent ist. Die nimmt sich, was sie kriegen kann, und dann haut sie ab.«
    »Aber seien wir doch mal ehrlich, Vera: Keine von uns beiden – du nicht und ich auch nicht – wird ihn pflegen, wenn es so
     weit ist, oder?« (Es muss doch einmal gesagt werden, auch wenn es wehtut, es so unverblümt auszusprechen.)
    »Für Mutter habe ich getan, was ich konnte. Was Vater angeht, fühle ich zwar eine gewisse Verpflichtung, aber mehr nicht.«
    »Er macht es einem ja auch nicht so leicht, ihn zu lieben.« Ich gebe mir Mühe, keinen Vorwurf durchklingen zu lassen, aber
     sie hört ihn trotzdem heraus.
    »Mit Liebe hat das nichts zu tun. Nein, Nadeshda, ich werde meiner Pflicht nachkommen, wie du hoffentlich auch. Auch wenn
     das heißt, dass wir ihn davor bewahren müssen, sich selbst zum absoluten Narren zu

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