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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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sie etwa, wie ihr verstorbener Gatte, auch eine Volksverräterin?
    Sonia Otscheretko war 1930, als man ihren Mann abgeholt und erschossen hatte, davongekommen. Doch damals hatten die Säuberungsaktionen
     gerade erst begonnen. In den sieben Jahren seither waren die Wellen der Festnahmen immer höher geschlagen, und inzwischen
     galten Erschießungen für Volksverräter als zu mild. Jetzt schickte man sie zur Umerziehung nach Sibirien in Arbeitslager.
    Tante Shura rettete sie. Sie erzählte dem Untersuchungsrichter, dass sie 1912 als junge Ärztin in der Ausbildung nach Novaja
     Aleksandria gereist war, um ihrer Schwester Sonia bei der Geburt ihres ersten Kindes – meiner Mutter Ludmilla – beizustehen.
     Und sie unterschrieb eine eidesstattliche Erklärung, dass Sonia Otscheretko damals Erstgebärende gewesen war. Dass Shuras
     Mann mit Woroshilow befreundet war, half außerdem.
    Doch Sonia erholte sich ihr Leben lang nicht mehr von diesen sechs Verhörtagen. Auf der Stirn hatte sie über einem Auge eine
     Narbe, und die Schneidezähne hatte man ihr ausgeschlagen. Ihre vorher geschmeidigen, flinken Bewegungen waren nun mühevoll
     und schwerfällig, und auch das ständige nervöse Zucken ihrer Augenlider wurde sie nie wieder los. Ihr Lebensmut war zerstört.
     
    »Natürlich hat Tante Shura ihn daraufhin hinausgeworfen. Und weil sie niemanden hatten, zu dem sie sonst hätten gehen können,
     zogen sie wieder zu Baba Sonia in die Wohnung. Es war wirklich unverzeihlich.«
    »Aber Baba Sonia hat ihm verziehen.«
    »Sie hat ihm Mutter zuliebe verziehen. Aber Mutter hat ihm nie vergeben.«
    |207| »Sie muss ihm vergeben haben. Immerhin ist sie sechzig Jahre lang bei ihm geblieben.«
    »Sie ist unseretwegen bei ihm geblieben, Nadia. Deinet- und meinetwegen. Unsere arme Mutter.«
    Ich frage mich, ob das wirklich wahr ist. Oder ob Vera ihr eigenes Drama in die Vergangenheit hineinprojiziert.
    »Heißt das, Vera, dass du dich jetzt zurücklehnen und zusehen willst, wie Valentina Vater weiterhin misshandelt? Wie sie ihn
     ausnimmt und vielleicht sogar umbringt?«
    »Nein, natürlich nicht. Wirklich, Nadeshda, ich verstehe dich nicht – als wenn ich es fertig bringen würde, in einer solchen
     Situation einfach untätig zuzusehen. Wir müssen ihn schon allein wegen Mutter in Schutz nehmen. So unnütz er auch ist, er
     gehört zur Familie. Wir können Valentina nicht einfach gewinnen lassen.«
    (Meine große Schwester ist also noch mit von der Partie!)
    »Sag mal, Vera, warum regt sich Vater eigentlich immer so darüber auf, dass du rauchst? Was ist das für eine Wut auf Zigaretten?«
    »Zigaretten? Hat er mit dir über Zigaretten geredet?«
    »Er sagt, du bist besessen von Zigaretten und von Ehescheidungen.«
    »Was hat er sonst noch gesagt?«
    »Nichts sonst. Warum?«
    »Vergiss es. Es hat nichts zu bedeuten.«
    »Offensichtlich schon.«
    »Nadia, warum musst du immer in der Vergangenheit herumstochern?« Ihre Stimme klingt gepresst und spröde. »Die Vergangenheit
     ist schmutzig. Wie eine Kloake. Man sollte nicht dort herumspielen. Rühr nicht daran. Vergiss es einfach.«

|208| 18.
Das Babyfon
    Valentina hat eine Einladung nach Selby zur Hochzeit ihrer Schwester bekommen. Mit ein paar bösen Sticheleien hat sie sie
     Vater unter die Nase gehalten. Wie sich dem beigelegten Briefchen entnehmen lässt, handelt es sich bei dem künftigen Ehemann
     um einen neunundvierzigjährigen Arzt, der mittlerweile nicht mehr verheiratet ist. Er hat zwei Kinder, die auf eine Privatschule
     gehen, sowie ein hübsches Haus mit einem hübschen Garten und einer Doppelgarage. Dass die flachbrüstige Ex-Ehefrau beträchtlichen
     Ärger macht, ist – weil der Mann so unendlich verliebt in Valentinas Schwester ist – kein Problem.
    In der Doppelgarage hat er einen Jaguar und als Zweitwagen einen Renault stehen. Jaguar ist, sagt Valentina, gut, aber nicht
     so gut wie Rolls-Royce. Renault kaum besser als Lada.
    Trotzdem hat der Brief ihrer Schwester in Valentina neue Unzufriedenheit entfacht mit ihrem eigenen reichen, knauserigen,
     nutzlosen Ehemann und dem zweitklassigen Lebensstil, zu dem er sie verdammt.
     
    Während Vater am Telefon vor sich hin plappert und sich nur von Zeit zu Zeit durch lautstarkes Husten selbst unterbricht,
     wandert mein Blick zu Mike, der, die Füße auf dem Couchtisch, ein Glas Bier in der Hand, vor dem Fernseher |209| sitzt und Nachrichten guckt. Er strahlt so etwas Freundliches, Anständiges aus, und er sieht

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