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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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spätnachts wache ich auf, als Valentina und Stanislav nach Hause kommen und, leise miteinander
     redend, nach oben schleichen.
     
    Obwohl der Psychiater Vater als geistig vollkommen klar bezeichnet hat, ist Valentina der Wahrheit vielleicht näher gekommen,
     als sie selbst dachte, denn wer in einem totalitären Staat gelebt hat, kennt alle Formen von Paranoia.
     
    1937, als mein Vater von Lugansk nach Kiew zurückkam, war das ganze Land von Paranoia überzogen. Sie sickerte überall durch,
     setzte sich in den intimsten Ecken und Winkeln von jedermanns Leben fest, ätzte sich in die Beziehungen zwischen Freunden
     und Kollegen, Lehrern und Schülern, Eltern und Kindern, Mann und Frau. Überall lauerten Feinde. Wenn dir irgendetwas nicht
     gefiel – zum Beispiel, zu welchem Preis dir jemand ein Ferkel verkaufen wollte oder wie ein anderer deine Freundin angeschaut
     hatte oder dass einer das Geld, das er dir geliehen hatte, wieder zurückverlangte oder dass jemand dir bei einer Prüfung eine
     schlechte Note verpasst hatte   –, dann genügte ein kurzer Hinweis an den NKWD, um denjenigen oder diejenige aus dem Verkehr zu ziehen. Oder vielleicht warst
     du ja auf die Frau eines anderen scharf – ein Wort beim NKWD, und schon gab es Arbeit für ihn in Sibirien und du hattest freie
     Bahn. Man konnte noch so klug, begabt oder patriotisch sein, für irgendjemanden war man trotzdem eine Bedrohung |223| . Wer zu klug war, war mit Sicherheit ein potentieller Überläufer oder Saboteur. Wer zu dumm war, sagte mit Sicherheit früher
     oder später ein falsches Wort. Niemand, egal ob ganz oben oder ganz unten in der gesellschaftlichen Hierarchie, konnte sich
     dieser Paranoia entziehen. Und tatsächlich war ja auch der mächtigste Mann im Land   – Stalin höchstpersönlich – der mit der größten Paranoia. Die Paranoia war unter den Türen des Kreml hindurch hinausgesickert
     und hatte alles menschliche Leben landauf, landab paralysiert.
    Die Festnahme des berühmten Flugzeugbauers Tupolew im Jahr 1937 wegen Verdachts der Spionage schockierte die Fachwelt. Tupolew
     wurde allerdings nicht in einen Gulag verbannt, sondern zusammen mit seinem ganzen Entwicklungsteam in sein eigenes Institut
     in Moskau eingesperrt, wo sie wie Sklaven gehalten und zur Weiterführung ihrer Arbeit gezwungen wurden. Ihre Schlafsäle wurden
     von bewaffneten Soldaten bewacht, aber zu essen erhielten sie bestes Fleisch und viel Fisch, denn man ging davon aus, dass
     das Gehirn nur arbeiten kann, wenn es gut ernährt wird. Eine Stunde täglich durften die Ingenieure an die frische Luft in
     ein umzäuntes Gehege auf das Dach ihres Institutsgebäudes. Von dort aus konnten sie mitunter hoch oben am Himmel die Flugzeuge
     sehen, die sie selbst konstruiert hatten.
    »Und es traf nicht nur Tupolew«, erzählt Vater. »Es traf auch Kerber, Ljulka, Astrow, Bartini, Losinski und sogar den genialen
     Korolew, den Vater der Raumfahrt.« Plötzlich war es gefährlich geworden, mit der Luftfahrt zu tun zu haben.
    »Und welche Schwachköpfe jetzt das Sagen hatten! Als die Ingenieure vorschlugen, einen kleinen Zweitaktersatzmotor anstelle
     des sperrigen Viertaktmotors zu bauen, damit das Stromsystem im Flugzeug bei einem Ausfall der |224| Generatoren weiterlaufen konnte, erhielten sie keine Erlaubnis dafür, weil es hieß, es sei zu riskant, von Viertaktmotoren
     direkt auf Zweitaktmotoren umzustellen. Sie sollten Dreitaktmotoren bauen! Haha! Dreitaktmotoren!«
    Vielleicht lag es an der Festnahme von Tupolew, vielleicht auch an den giftigen Auswirkungen der Paranoia, dass mein Vater
     zu jenem Zeitpunkt begann, sich von den himmelstürmenden Träumen der Luftfahrt ab- und der bescheidenen erdgebundenen Welt
     der Traktoren zuzuwenden. Jedenfalls fand er den Weg zur Fabrik Roter Pflug in Kiew.
    Der Rote Pflug war eine paranoia-freie Zone. Geschmiegt in eine Biegung des Dnjepr und weit entfernt von politischen Machtzentren,
     produzierte er landwirtschaftliche Geräte, Baumaschinen, Boiler und Fässer. Nichts war von militärischer Bedeutung. Nichts
     war geheim oder auf dem neuesten Stand der Technik. Daher wurde der Rote Pflug ein Ankerplatz für Wissenschaftler, Ingenieure,
     Künstler, Dichter und für alle, die frei atmen wollten. Vaters erstes Konstruktionsprojekt war eine Zementmischmaschine –
     eine wahre Schönheit. (Er wirbelt mit den Händen in der Luft herum, um zu zeigen, wie sie funktionierte.) Als Nächstes entwickelte
     er einen

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