Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Kopf will, Vera, ist, wieso die Leute so schnell bereit waren, einander zu verraten. Man sollte doch
meinen, angesichts dieser Unterdrückung hätten sie sich solidarisch verhalten müssen.«
»Nein. So zu denken ist naiv, Nadeshda. Das ist die dunkle Seite der menschlichen Natur. Wenn jemand Macht hat, versuchen
die weniger Mächtigen immer, sich mit ihm gut zu stellen. Schau dir doch nur an, wie Vater ständig versucht, Valentina gefällig
zu sein, sogar wenn sie ihn misshandelt. Schau dir an, wie deine Labour-Politiker im Staub kriechen, um den Kapitalisten,
die sie ursprünglich stürzen wollten, ihre Anerkennung zu bezeugen. Natürlich sind nicht nur Politiker so, du kannst das im
ganzen Tierreich beobachten.«
(Ach, Schwester, du hast wirklich ein Talent, überall die dunklen Seiten zu erspüren, immer siehst du das Schlechte, das Unschöne,
das Schmutzige. Wann hast du gelernt, ständig alles so finster zu sehen?)
|231| »Das sind nicht
meine
Labour-Politiker, Vera.«
»Na, meine erst recht nicht. Und Mutters, wie du weißt, schon überhaupt nicht.«
Ja, meine großherzige, liebevolle, immer auf unser leibliches Wohl bedachte Mutter war eine überzeugte Anhängerin von Mrs. Thatcher.
»Lass uns bitte nicht über Politik reden, Vera. Da streiten wir uns ja doch nur.«
»Ja, natürlich. Manche Dinge sind so hässlich, dass man lieber nicht darüber sprechen sollte.«
Stattdessen schmieden wir Pläne für die Verhandlung, die immer näher rückt. Plötzlich sind es nur noch zwei Wochen bis dahin.
Vera und ich haben jetzt unsere Rollen vertauscht. Ich bin nun die Scheidungsexpertin, oder zumindest bin ich diejenige, die
sich um alles, was mit der Scheidung zu tun hat, kümmert. Und Vera spielt die Schickt-sie-alle-zurück-Aktivistin, und diese
Rolle passt ihr wie angegossen.
»Das Geheimnis jedes Erfolgs, Nadia, liegt in einer möglichst genauen Planung.«
Also hat Vera sich den Verhandlungsraum angesehen, die Lage gepeilt und sich mit einer Gerichtsdienerin bekannt gemacht. Sie
hat auch im Gericht nachgefragt und, ohne direkt zu sagen, dass sie für Mrs. Majevski handelt, sichergestellt, dass ein Dolmetscher an der Verhandlung teilnehmen wird.
Ich fahre zur Verhandlung nach London, weil ich diesen spannenden Moment der Entscheidung unbedingt miterleben möchte. Vera
und ich haben uns in einem Café vis-à-vis vom Gerichtsgebäude in Islington verabredet. Wir haben zwar öfter miteinander telefoniert,
doch jetzt treten wir uns zum ersten Mal seit Mutters Beerdigung wieder |232| gegenüber. Wir mustern uns gegenseitig. Ich habe mir mit meinem Aussehen Mühe gegeben, weiße Bluse, dunkle Hose und dazu ein
neuer Blazer (secondhand im Oxfam-Shop gekauft, aber von dieser Saison). Vera trägt eine modische erdfarbene Knitterleinenjacke
mit passendem Rock. Behutsam strecken wir die Köpfe nach vorn und hauchen uns gegenseitig Küsschen auf die Wangen.
»Wie schön, dich zu sehen, Nadia.«
»Ich freue mich auch, Vera.«
Wir bewegen uns auf dünnem Eis.
Sehr frühzeitig begeben wir uns zu unseren Plätzen hinten im Verhandlungssaal. Es ist ein düsterer eichengetäfelter Raum,
in den durch hoch oben unterhalb der Decke angebrachte Fenster schräge Sonnenstrahlen fallen. Hinaussehen kann man nicht.
Wenige Minuten vor Beginn der Verhandlung kommen auch Valentina und Stanislav. Valentina hat sich selbst übertroffen – das
blaue Kostüm mit der rosa Paspelierung ist passé, heute trägt sie ein weißes Kleid mit einer schwarzweißen Hahnentritt-Jacke,
die tief genug ausgeschnitten ist, um reichlich Dekolleté sehen zu lassen, insgesamt aber Valentinas Körperfülle geschickt
kaschiert. Auf ihrer aufgeplusterten blonden Mähne sitzt ein kleiner weißer, mit schwarzen Seidenblumen garnierter Pillbox-Hut.
Lippenstift und Nagellack sind blutrot. Stanislav trägt die Krawatte und Uniform seiner Privatschule und hat die Haare geschnitten
bekommen.
Valentina entdeckt uns sofort, als sie durch die Tür tritt, und stößt einen kleinen Schrei aus. Der blonde junge Mann an ihrer
Seite – vermutlich ihr Rechtsbeistand – folgt ihrem Blick und redet, während sie ihre Plätze einnehmen, leise mit ihr. Angesichts
seines hervorragend sitzenden Anzugs und der auffälligen Krawatte sind wir überzeugt, dass es sich bei ihm nicht um einen
Anwalt aus Peterborough handelt.
|233| Im Gegensatz zu dem gepflegten Erscheinungsbild, um das jeder von uns sich bemüht
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