Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
überhaupt der Polizei überließen? Diese junge Polizistin aus Spalding, mit der ich gesprochen
habe, scheint wirklich auf unserer Seite zu stehen.«
»Du willst dich immer noch auf die Hüter des Gesetzes verlassen? Nein, Nadia, wenn wir es nicht machen, macht es niemand.«
»Okay.« Trotz meiner Einwände gefällt mir die Idee. »Vielleicht sollten wir dafür sorgen, dass unser Dreitagebart-Justin auch
dort ist. Als Rückenstärkung sozusagen.«
|271| Doch noch bevor wir uns darauf geeinigt haben, an welchem Tag wir uns auf die Lauer legen wollen, ruft Vater mich höchst erregt
an. Ein mysteriöser Mann schleicht um sein Haus herum.
»Sehr mysteriöser Mann. Seit gestern. Schaut durch alle Fenster herein und verschwindet wieder.«
»Aber Papa, wer ist das denn? Du solltest die Polizei verständigen.«
Ich bin sehr beunruhigt. Ganz offensichtlich sondiert da jemand die Lage für einen Einbruch.
»Nein! Nein! Keine Polizei! Auf keinen Fall die Polizei!« Vaters Erfahrungen mit der Polizei waren nicht unbedingt positiv.
»Dann ruf einen Nachbarn, Papa. Und stellt diesen Mann gemeinsam zur Rede. Findet heraus, wer er ist. Wahrscheinlich ist es
ein Einbrecher, der rauskriegen will, ob du etwas hast, was sich zu stehlen lohnt.«
»Sieht nicht wie ein Einbrecher aus. Mittleres Alter, klein, trägt einen braunen Anzug.«
Das verblüfft mich. »Wir kommen nächsten Samstag zu dir. Halte die Tür und die Fenster geschlossen bis dahin.«
Samstagnachmittag gegen drei Uhr sind wir da. Es ist Mitte Oktober. Die Sonne steht schon niedrig am Himmel und Dunst liegt
wie ein feuchter Schleier über dem Land, zieht über die tief liegenden Felder und Wiesen, steigt geisterhaft aus den Entwässerungskanälen
und Wasserläufen. Die Blätter verfärben sich schon. Der Garten liegt voller Fallobst – Äpfel, Birnen, Pflaumen, über denen Wolken von kleinen schwarzen Fliegen schweben.
Vater schläft in seinem Sessel am Fenster. Mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund, eine silbrige Speichelspur zieht sich
vom Mundwinkel bis zum Kragen. Lady Dis Freundin liegt zusammengerollt auf seinem Schoß, ihr getigerter |272| Bauch hebt und senkt sich leicht. Alles in Haus und Garten scheint in Schlaf versunken, als hätte eine Märchenfee einen Zauber
darüber gelegt, und der Schläfer warte nun auf den erlösenden Kuss.
»Hallo, Papa.« Ich drücke ihm einen Kuss auf seine eingefallene stoppelige Wange. Er fährt mit einem Ruck in die Höhe, und
die Katze springt auf den Boden und streicht zur Begrüßung schnurrend um unsere Beine.
»Hallo, Nadia, Michail! Gut, dass ihr kommt!«, sagt er und streckt die Arme nach uns aus.
Wie dünn er geworden ist! Ich hatte gehofft, alles würde sich nach Valentinas Auszug schlagartig zum Besseren wenden, er würde
wieder zunehmen und im Haus Ordnung schaffen, und dann wäre alles wieder wie immer. Aber nichts hat sich verändert, außer
dass jetzt eine große valentinaförmige Leere in seinem Herzen wohnt.
»Wie geht es dir, Papa? Wo ist dieser mysteriöse Mann?« »Der mysteriöse Mann ist verschwunden. Habe ihn seit gestern nicht
mehr gesehen.«
Ehrlich gesagt bin ich jetzt etwas enttäuscht – er hatte mich wirklich neugierig gemacht. Aber nun gehe ich eben in die Küche
und setze Teewasser auf, und bis es anfängt zu kochen, sammle ich draußen im Garten Fallobst zusammen. Dass Vater sein alljährliches
Ritual – Obst pflücken und aufsammeln, einlagern und Äpfel für sein Toshiba-Rezept schälen und verarbeiten – nicht eingehalten hat,
beunruhigt mich. Selbstvernachlässigung ist ein Anzeichen für Depression.
Mike nimmt inzwischen auf dem Sofa seine Zuhörerposition ein. »Sag, Nikolai, kommst du gut voran mit deinem Buch? Hast du
vielleicht noch was von diesem exzellenten Pflaumenwein?« (Für meinen Geschmack zeigt er etwas zu großes Interesse an diesem
Pflaumenwein. Merkt er denn nicht, dass das Zeug gefährlich ist?)
|273| »Oh ja!«, ruft Vater erfreut und reicht Mike ein Glas Wein. »Jetzt beginnt eine sehr interessante Phase in der Geschichte
des Traktors. Genauso wie Lenin für die Phase des Kapitalismus feststellte, dass die ganze Welt zu einem einzigen Markt wird
und die Konzentration des Kapitals deutlich ansteigt, denke ich nämlich hinsichtlich der technischen Weiterentwicklung des
Traktors Folgendes …«
Was er im Einzelnen denkt, werde ich nie erfahren, denn an diesem Punkt hat Mike sich bereits dem
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