Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe
Und so sollte Ojuna vier Tage mit Großmutter im Ger eingeschlossen sein, weil Papa gleich am ersten Tag, an dem wir wegfuhren, irgendwelche Schafe abhandenkamen und er sie suchen reiten musste. Es entwickelte sich aber schließlich alles ganz anders und endete mit Großmutters Tod.
Eigentlich weiß niemand, was damals genau passierte, weil Papa nicht dabei war und uns nichts sagen konnte, und Ojuna nur schrie, bis sie Mama, die sie krampfhaft an sich drückte, mit den Tränen den ganzen Kragen des Deels durchnässt hatte. Das Auto war auf der Rückfahrt von Munchtsetseg und Majdar hängen geblieben. Das Benzin war ausgegangen, und laut Mama war es, und das stimmte wahrscheinlich, bis zur nächsten Tankstelle zu weit, um zu Fuß hinzugehen.
Wir freuten uns, dass wir wenigstens Ojuna nicht dabei hatten, weil, sie in der Julihitze der Gobi zwanzig Kilometer weit auf dem Rücken oder dem Arm zu tragen, keine von uns gewollt hätte. Wir schleppten ja schon, so gut es ging, die mit Kumys gefüllten Limonadenflaschen und blieben unterwegs immer wieder stehen und tranken davon, und die Milch war in kürzester Zeit kochend heiß, und uns allen wurde davon
schwindlig, und auf den ganzen zwanzig Kilometern gab es keinen einzigen Baum.
Als unser Zuhause kein wie ein verirrtes Rappenfohlen einsam in der Steppe hockender schwarzer Punkt mehr war, sondern wir den Türrahmen und den orangeroten Ornamentstreifen um ihn herum erkennen konnten, bemerkten wir etwa zwanzig Schritte westlich vom Ger ein hingestreutes Häufchen. Je näher wir kamen, desto klarer wurde, dass es das war, was uns allen eingefallen war, aber aus Angst keine laut gesagt hatte. Großmutter lag wie ein entwurzelter verkrümmter Baum seltsam auseinandergeworfen auf dem Boden, so dass gleich offenbar war, dass sie nicht nur so umgefallen, sondern wahrscheinlich von irgendeinem Krampf geschüttelt worden war, obwohl sie vorher nie Krämpfe gehabt hatte. Es war nicht klar, wohin Großmutter gegangen war, weil man in diese Richtung weder Harn lassen, noch beten, noch Argal zum Heizen holen ging, kurz, hier ging nie jemand irgendwohin, geschweige denn sie, die immer nur zu einem bestimmten Zweck irgendwohin ging. Dann, nachdem wir uns alle von diesem Schreck erholt hatten, standen wir eine Weile ratlos da vor Großmutter. Sie war schon steif, und man konnte sie nicht geradebiegen. Es gelang uns nicht einmal, die geballten Fäuste zu öffnen, und wir versuchten es eine nach der anderen, nur Mama nicht, aber sie ließ zu, dass wir es probierten.
Plötzlich aus heiterem Himmel erbleichte Mama, schrie auf und rannte in Richtung Ger. Magi, Nara und ich, wir alle hatten Ojuna vergessen.
Sie hockte im Ger neben dem Ofen, in Magis Ziegenknöchelchen vertieft, mit denen sie Reihen legte und die Erde aufkratzte.
Das behauptete Mama, Ojuna war, als wir kamen, nicht zu
sehen, nur aus Mamas Armen erklang ein herzzerreißendes I-Ahen, und Mamas Arme waren ganz blutleer und weiß, wie sie das Kind inständig an sich presste.
Papa kam am nächsten Morgen, fand Großmutter, mit einem Fell zugedeckt, vor dem Ger und drinnen fünf in ein einziges Bett gequetschte Frauenzimmer. Mama und Papa schleppten Großmutter hinauf zu unserem Platz an einem Berghang ein Stück östlich von uns und ließen sie dort. Als wir nach fünfundvierzig Tagen nachschauen gingen, war nichts mehr da. Damals blieb Ojuna zum ersten Mal allein daheim, weil sie, als Papa unterwegs Großmutters Namen aussprach, so in seinen Armen herumrutschte, dass Papa sie absetzen musste und sie mit der Geschwindigkeit eines getretenen Welpen zurück nach Hause rannte.
Als ich Ojuna später danach fragte, war sie zwar schon groß und vernünftig, konnte mir aber von dem, was damals geschehen war, auch nicht mehr sagen, als ich schon wusste. Aber wie Papa von einem Stier aufgespießt wurde und heimkam und sich mit schwarzroten Händen den aufgerissenen Bauch zuhielt, daran konnte sie sich gut erinnern. Und das war nur ein paar Wochen später passiert. Man kann Ojuna fast genauso wenig wie Mama glauben. Sie hielten ja auch ewig zusammen. Bis zu Mamas Tod.
Von Großmutter wurde dann von der Zeit an bei uns nicht mehr viel gesprochen. Niemand verstand, wie sie von uns gegangen war. Nur Magi und Nara suhlten sich manchmal in Gruselgeschichten und beobachteten aus den Augenwinkeln Ojuna, die auf den Boden blickte und tat, als höre sie nichts, und Papa machte ein finsteres Gesicht, und Mama wurde blass und versetzte dann
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