Kurzschluss
sich in der Ferne in Nebel und Wolken.
Während er konzentriert dem Straßenverlauf folgte und gelegentlich einen prüfenden Blick in den Rückspiegel warf, überlegte Sander, wie er heimlich Häberle anrufen konnte. Er wollte seine Partnerin nicht beunruhigen. Denn würde sie das Gespräch mitbekommen – da war er sich ganz sicher –, könnte er ihr nicht mehr länger den Gelassenen vorspielen. Aber in dieser kühlen Weite gab es keine Möglichkeit, sich mit dem Handy zu entfernen. Auf der Fahrt südostwärts nach Lom, einem kleinen Ort, in dem sie im spitzen Winkel nach rechts abzweigen mussten, in eine gewiss grandiose Gebirgslandschaft, die jedoch im Regengrau untergegangen war, hatten sie sich für ein Mittagsschläfchen entschieden. Nichts konnte gemütlicher sein, als sich im Alkoven überm Fahrerhaus aneinanderzukuscheln und dem Trommeln des Regens zu lauschen.
Sander hatte sich vergewissert, dass die Türen fest verschlossen waren. Soweit er es im Nebel hatte überblicken können, war in dieser tristen Hochgebirgsebene kein Mensch zu Fuß unterwegs. Und auch sonst war ihm nichts verdächtig erschienen. Nur alle fünf Minuten, so schätzte er, war ein Fahrzeug vorbeigekommen.
Bei der Weiterfahrt über die höchsten Pässe Nordeuropas waren sie mitten ins Wintersportgebiet geraten, das jetzt zur Sommerzeit einen eher trostlosen Charme verbreitete. Auf den mit Schnee bedeckten Hängen beidseits der Straße, die auf etwa 1.500 Meter Höhe geklettert war, mühten sich einige Langläufer oder Abfahrtsläufer. Dann tauchte im undurchdringlichen Grau ein Hotelkomplex auf, der aus mehreren holzverkleideten kleineren Gebäuden bestand, und vor dem Dutzende Fahrzeuge parkten.
Sander reduzierte das Tempo. Beim Blick durch die Windschutzscheibe fröstelte ihn. Doris hatte die Heizung aufgedreht, als der Wind ihnen dicke nasse Schneeflocken entgegentrieb. Gleich würde sich auf der Straße eine glitschige Decke bilden, dachte Sander und beobachtete im Rückspiegel, wie sich die Scheinwerfer eines Pkws näherten, der dicht aufschloss.
Vermutlich einer, der sich bei dieser scheußlichen Witterung gerne an den Schlusslichtern eines Vordermannes orientierte, redete sich Sander ein und hoffte inständig, dass es keinen Schneematsch geben würde. Doris saß konzentriert auf dem Beifahrersitz, als müsse sie selbst die schwierige Situation bewältigen. Stilvoll drangen ein paar Takte der Schiwago-Melodie aus dem Lautsprecher. Allerdings viel zu leise, um den dröhnenden Motor übertönen zu können.
Erst als sich die Straße wieder senkte und der Schnee in den tieferen Regionen in Regen übergegangen war, hielt Sander an, angeblich, um ein paar Fotos zu knipsen. In Wirklichkeit hatte er sich vergewissern wollen, ob der alte Volvo hinter ihnen überholte. Nachdem dies geschehen war, aßen sie ein paar Kekse, um dann die Fahrt fortzusetzen – hinab zum traumhaften Lustrafjord, der die Tristheit der Hochgebirgswelt sofort vergessen ließ. Innerhalb weniger Kilometer hatten sie mindestens drei Klimazonen passiert. Sie waren aus dem Winter geradewegs in den Sommer hineingefahren: bunte Blumenstauden gab es nun, sattes Grün und sogar Obstbäume, die sie hier nicht erwartet hätten.
Tagesziel war Gaupne gewesen, ein relativ großes Städtchen an den südlichen Ausläufern des Jostedalsbreen-Nationalparks, in dem eine gewaltige Gletscherzunge talwärts strebt – jedoch 40 Kilometer vom Campingplatz entfernt.
An diesem Freitagmorgen jedenfalls lockten ein paar Sonnenstrahlen zu einem Abstecher in dieses Seitental. Sander hatte wieder schlecht geträumt und war schweißgebadet aufgewacht. Die Bilder waren so lebendig gewesen, als habe er sich mitten im Geschehen aufgehalten – als Gehetzter, hinter dem eine ganze Karawane niederländischer Wohnwagengespannfahrer her war. Kein Wunder, dachte Sander beim Blick aus dem Fenster des Wohnmobils. Seit Tagen sah er nur Autokennzeichen aus den Niederlanden. Noch im Laufe der Nacht, so stellte er fest, musste ein großes Wohnmobil gekommen und sich dicht neben sie gestellt haben. Viel zu dicht, wie er befand.
»Hast du die kommen hören?«, fragte er deshalb seine Partnerin.
»Ja, ich glaub, es war schon Morgen.« Sie lächelte. »Aber du hast ja geschnarcht.«
»Holländer?«, fragte er und rührte in seinem Kaffee.
»Weiß ich nicht«, gab sie zurück. »Die stehen zu dicht – man kann es nicht sehen.«
Sander beschloss, sich das Kennzeichen nachher genauer zu betrachten
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