Kurzschluss
vorsichtig nach unten, wo das diffuse Licht der Abenddämmerung nur noch für spärliche Beleuchtung sorgte. Häberle ging langsam, Stufe für Stufe, nach unten. Linkohr blieb dicht hinter ihm. Sie ließen den schmalen Blickwinkel, der sich ihnen auf die untere Diele bot, nicht aus den Augen. Linkohr überlegte, ob er seine Waffe ziehen sollte, die unterm Freizeitjackett steckte. Sein Chef, so vermutete er, hatte seine sicherlich im Büro gelassen.
Dann jedoch verwarf Linkohr den Gedanken, denn sie hatten mittlerweile bereits die letzten vier Stufen erreicht, von der aus sie die anderen Türen überblicken konnten. Nichts deutete darauf hin, dass sich seit vorhin etwas verändert hatte. Doch plötzlich stieg ihnen ein ungewöhnlich beißender Geruch in der Nase. Chemisch und aggressiv.
»Riechen Sie das?«, entfuhr es Häberle viel zu laut. Seine ansonsten ruhige und sonore Stimme wirkte plötzlich nervös. Linkohr nickte schnell. Die Dämpfe, die den Raum erfüllten, ließen Schlimmes befürchten. Mit einem Mal wurde ihnen klar, wonach es roch.
17
Es war ein angenehmer Juniabend in Kongsberg. Die Sonne, die bis spät in die Nacht hinein am Himmel stand, hatte die Luft erwärmt. Lange Tage wie diese wussten die Frederiksens zu genießen. Dann saßen sie in ihrem Garten, zwischen den üppig blühenden Sommerstauden, tranken ein Gläschen Württemberger Rotwein, den sie regelmäßig von ihren Reisen aus Deutschland mitbrachten, und lauschten dem Rauschen des Flusses, der das Tal beherrschte.
Ingo und seine Frau Lea betrachteten das Gartenidyll als ihr kleines Paradies. Die beiden Kinder besuchten in Kongsberg den Kindergarten, doch achtete Lea strikt darauf, dass sie zweisprachig aufwuchsen. Irgendwann, daran ließ sie keinen Zweifel aufkommen, wollte sie wieder nach Deutschland zurückkehren. Sie hoffte inständig, dass Ingo eines Tages ihrem Drängen nachgab. Aber solange er hier diesen guten Job hatte, wäre es töricht, in ihr von Krisen gebeuteltes Heimatland rückzuwandern, über dessen politische Situation man ohnehin nichts Gutes hörte. Sie verfolgte das aktuelle Geschehen über die Fernsehsender, hatte oftmals auch stundenlang übers Internet das Radioprogramm des Südwestrundfunks laufen.
In den Regionalnachrichten von SWR 4 war am Nachmittag von dem schrecklichen Verbrechen in ihrer Heimatstadt berichtet worden. Dass es ihr Vater sein könnte, den man in diesem Teich gefunden hatte, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Zwar hatte er sich die letzten Tage am Telefon nicht gemeldet, aber es kam öfter mal vor, dass er spontan geschäftlich verreisen musste und einfach vergaß, sie anzurufen.
Doch nun, da Ingo durch seinen Anruf bei der Geislinger Polizei erfahren hatte, dass man Leas Vater tot aufgefunden hatte, allem Anschein nach ermordet, war in ihr eine Welt zusammengebrochen – eine heile Welt, wie sie es noch bis vor zwei Stunden empfunden hatte. Getrübt war sie nur durch die Trennung der Eltern gewesen, doch hatte sie den Eindruck, dass es für beide Teile die beste Lösung war. Ihre Mutter konnte sich einer neuen beruflichen Herausforderung widmen – und ihr Vater wollte, wie er ihr mehrfach erzählt hatte, sein Wissen als profunder Kenner der Energiebranche sinnvoll nutzen. Was er darunter verstand, hatte sie ihm allerdings nicht entlocken können. Und jetzt nahm er sein Geheimnis mit ins Grab.
Lea war mit geröteten Augen ins Wohnzimmer zurückgekommen. Ihre zerwühlten Haare spiegelten ihr Inneres wider. Eine Stunde lang hatte sie mit ihrer Mutter telefoniert und dabei hemmungslos geweint. Der Gedanke, dass es jemanden gab, der ihren Vater kaltblütig umgebracht hatte, ließ in ihr einen unbändigen Zorn aufsteigen, eine Ohnmacht, ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Rache.
Ingo und die beiden Kinder – ein Mädchen und ein jüngerer Bub – saßen auf der abgewinkelten Couch. Lea kämpfte noch immer mit den Tränen, zögerte und ließ sich erschöpft neben ihrem Mann nieder. Es schien ihr, als sei ihr alle Energie entzogen worden.
Ingo nahm seine Frau in die Arme, während die Kinder ungewöhnlich still sitzen blieben. Sie hatten den Großvater nur höchst selten gesehen und die lange Fahrt in den Süden als äußerst langweilig empfunden.
»Weiß man schon etwas Genaues?«, fragte Ingo so beruhigend wie möglich, um die Stille zu durchbrechen.
Lea schnäuzte und atmete schwer. »Mutti sagt, dass er zuletzt seine Filmerei auch für andere Dinge genutzt hat.« Sie schloss die
Weitere Kostenlose Bücher