Kurzschluss
gelungen, Angehörige ausfindig zu machen.
Häberle klopfte dem jungen Kollegen anerkennend auf die Schulter. Kurz vor halb zehn hatte sich um ihn herum ein knappes Dutzend Männer und Frauen über die Protokolle der vergangenen beiden Tage hergemacht, um Zusammenhänge und Merkwürdigkeiten herauszuarbeiten. Einige der Ermittler telefonierten, zwei diskutierten. Häberle ging von einem zum anderen, um sie mit Handschlag zu begrüßen und mit ein paar freundlichen Worten aufzumuntern.
»Was stimmt dich denn so optimistisch?«, wollte ein Kollege wissen. Erfahrungsgemäß ließen solche positiven Äußerungen Häberles darauf schließen, dass er bereits eine bestimmte Vorstellung von der Auflösung des Falles hatte.
Der Chefermittler grinste vielsagend. »Ich füll schon mal vorsorglich einen Dienstreiseantrag aus.« Er kam wieder an Linkohrs Schreibtisch heran. »Und Sie, junger Kollege, halten mich auf dem Laufenden. Denn sobald sich meine Dienstreise in gewissen Kreisen herumgesprochen hat, dürfte der eine oder andere ziemlich nervös werden.«
Die Kriminalisten sahen ihren Chef verständnislos an. Doch Häberle schwieg und genoss die Ratlosigkeit. Er wollte sich zu seiner Theorie nicht äußern, denn sonst liefen die weiteren Ermittlungen erfahrungsgemäß nur noch in eine Richtung. Viel besser war es, die Kollegen ihre eigenen Wege gehen zu lassen und erst abschließend daraus ein Resümee zu ziehen. Deshalb war es wichtig, dass die einzelnen Stoßrichtungen koordiniert und dokumentiert wurden. Das erforderte zwar viel Schreibkram und hatte gar nichts mit der Arbeit der Fernsehkommissare zu tun, die man höchst selten am Computer sitzen sah. Die Realität bestand aus akribischer Kleinarbeit, vor allem aber aus einem Gespür für Ungereimtheiten. Und diese konnten sich aus kleinsten Nebensächlichkeiten oder beiläufigen Bemerkungen eines Zeugen ergeben. Man musste nur genau zuhören und beobachten können. Leider ein Talent, das im Zeitalter hektischen Getues und Gerennes, des Wichtigmachens und Dauerschwätzens, mehr und mehr verloren ging, bedauerte Häberle. Er jedoch wollte diese Tugenden so gut es ging an die jungen Kollegen weitergeben. Doch ob denen in einem System, das nur damit beschäftigt war, sich abzuschotten und die Pfründe einiger politisch gepuschter Emporkömmlinge zu sichern, noch eine Chance gegeben wurde, wagte er zu bezweifeln. Es sei denn, das aufgeblähte Gebilde aus Lug und Trug kippte und das Volk bemerkte, wie es in den letzten Jahrzehnten klein gehalten wurde. Häberle grauste es bei dem Gedanken, welche Folgen die sozialen Verwerfungen haben konnten. Da waren die beiden Morde, mit denen er es jetzt zu tun hatte, womöglich wirklich Peanuts. Aber bevor es so weit sein würde, war er sicher bereits im Ruhestand.
*
»Wo ist eigentlich Frau Rothfuß?«, fragte Rupert Bodling verwundert, als seine engsten Mitarbeiter Alfred Feucht, Hasso Schweizer und Markus Wollek zur Besprechung in sein Büro kamen.
»Keine Ahnung«, fühlte sich der überaus korrekte Feucht zu einer Antwort genötigt, während sie am runden Besprechungstisch Platz nahmen.
»Komisch«, stellte Bodling fest. »Sie hat doch keine Nachricht hinterlassen?« Die Frage richtete sich an die anderen Männer, die wortlos mit den Schultern zuckten oder den Kopf schüttelten.
»Normalerweise sagt sie Bescheid, wenn sie sich verspätet«, erklärte Feucht, der die Jacke seines grauen Anzugs öffnete.
Bodling sah auf die Armbanduhr. »Schon 10 Uhr. Wir sollten sicherstellen, dass die Anrufe umgeleitet werden.«
Feucht stand auf, verschwand im Vorzimmer und drückte dort am Telefon einige Tasten. »Erledigt«, beschied er und kehrte an seinen Platz zurück.
»Ich will’s kurz machen«, begann Bodling und knöpfte ebenfalls sein Jackett auf. Die Ereignisse der vergangenen Tage waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er wirkte abgespannt und nervös. »Wir sollten uns auf eine einheitliche Sprachregelung einigen«, fuhr Bodling fort. »Wir haben nichts zu verbergen und müssen in diesem Sinne auch nach außen hin auftreten.« Er sah von einem zum anderen. Alle deuteten zaghaftes Kopfnicken an. »Gerade in diesen Zeiten, das muss uns bewusst sein, werden die Medien wie die Geier über uns herfallen.« Er spielte nervös mit seinem Füllfederhalter. »Ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Boulevardpresse bereits Blut geleckt hat. Für heute Nachmittag hat sich ein Journalist von Bild angekündigt. Ich
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