Kurzschluss
»hatte außerdem ein sehr gutes Gefühl für Gerechtigkeit. Sagt man doch so, oder?«
»Und er war sozial eingestellt«, fügte Lea an. »Er hat sogar mal mit dem Gedanken gespielt, in die Politik zu gehen.«
»Für die Sozialisten«, bekräftigte Frederiksen. »Der Kapitalismus, so hat er schon vor Jahren gemeint, sei am Ende.«
»Und die Kleinen würden ausgesaugt«, griff die Tochter das Thema auf, mit dem sie sich offenbar auch befasste. »Die Energie wird immer teurer, hat er gesagt. Zum einen durch die Steuern, zum anderen durch Manipulationen an dieser Börse.«
Häberle machte sich beiläufig einige Notizen.
»Als wir uns an Weihnachten getroffen haben«, fuhr Frederiksen fort, »da haben wir sehr lange über diese Krise gesprochen und er meinte, auch das sei manipuliert.«
Lea ergänzte: »Er hat wörtlich geäußert: Da hat jemand an einem ganz großen Rad gedreht.«
Häberle hakte nach: »Wie hat er das gemeint – am großen Rad drehen?«
»Dass versucht werden soll, Überproduktionen auf Kosten der kleinen Leute abzubauen«, antwortete Lea schnell und schwer atmend. »Jahrelang, hat mein Vater gesagt, jahrelang sei weltweit eine Scheinwirtschaft aufgebläht worden – durch Banker und Industriebosse. Sei es, um sich selbst zu bereichern oder um je nach Belieben Regierungen zu puschen, weil ja immer gerade irgendwo Wahlkampf ist.«
»Die Politiker haben seiner Meinung nach gar keine Rolle mehr gespielt«, fuhr Frederiksen fort. »Die haben den Industriebossen das Steuer in die Hand gegeben und sie alles machen lassen. Hauptsache, sie wurden wiedergewählt. Und jetzt ist es so weit aufgebläht, dass die Blase geplatzt ist.« Bei manchen deutschen Formulierungen tat er sich schwer, aber er beherrschte die Sprache dennoch ausgezeichnet.
»Erst vorletzte Woche haben wir am Telefon darüber diskutiert«, ergänzte seine Frau. »Der neueste Coup sei der Trick mit der Kurzarbeit, mit dem in ganz Deutschland eine Riesensauerei laufe.«
Der Kommissar runzelte die Stirn und beugte sich interessiert vor.
»Mein Vati«, fuhr sie fort, »war der felsenfesten Überzeugung, dass die Wirtschaftsbosse die selbst verschuldete Krise dazu nutzen, den Staat vollends zu plündern. Die Kurzarbeit, die der Staat subventioniert, sei zwar in ganz großen Produktionsbetrieben nachvollziehbar – nicht aber in vielen kleinen.«
»Und wie hat er das gemeint?«, wollte Häberle wissen, der bisher davon ausgegangen war, Kurzarbeit diene dazu, Entlassungen vorläufig zu vermeiden.
»Dort, wo es keinen Betriebsrat gibt und die Arbeiter Freiwild sind«, zitierte Lea ihren Vater, »da muss zwar der Chef mit jedem Einzelnen eine Vereinbarung zur Kurzarbeit abschließen, aber welcher Einzelkämpfer in einem solchen Betrieb widerspricht dem Chef? Schon gar in diesen Zeiten? Also willigt jeder ein, soll also weniger arbeiten und wird unter Druck gesetzt, trotzdem die höchste Leistung zu erbringen. Genial, nicht wahr, Herr Kommissar? – Der Betrieb muss weniger Lohn bezahlen, der Arbeiter wird gezwungen, alles zu geben und einen Großteil des Lohnausfalls bezahlt der Staat.«
Häberle hatte sich vorgenommen, bei Gelegenheit auch mit einem Arbeitsrechtler darüber zu reden. In den Medien jedenfalls waren ihm bislang keine Berichte über derlei Schwindeleien aufgefallen. Aber wo es um Geld und die eigene Bereicherung ging, war nichts unmöglich. Und dass die Agentur für Arbeit nicht jeden einzelnen Antrag auf Kurzarbeit auf seine Notwendigkeit hin würde überprüfen können, leuchtete ihm ein. Vermutlich gab es mehr Betrüger, als man sich vorstellen konnte. »Wenn ich Sie richtig verstehe, befürchten Sie, dass Ihr Vater wegen seiner … ja, sagen wir mal … etwas kritischen Einstellung gegenüber der freien Marktwirtschaft in Gefahr geraten ist?«, resümierte der Chefermittler.
»Sagen Sie es ruhig deutlich: Wegen seiner kritischen Einstellung zum Kapitalismus«, entgegnete die Tochter des Ermordeten.
»Hat er deshalb auch die Vorgänge in der Strombranche so kritisch beleuchtet?«
»Ja, natürlich. Und er hat sogar Unterstützung von seinem Chef gekriegt. Sie wollten aufdecken, was so alles gedreht wird.«
Häberle befürchtete, dass es wohl unumgänglich war, das gesamte Videomaterial Büttners zu sichten. Vermutlich würde dies Tage, wenn nicht sogar Wochen oder Monate in Anspruch nehmen. Er überlegte, ob die Tochter auch über die anderen Aktivitäten ihres Vaters informiert war. »Sie werden verstehen, dass wir
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