Kuss der Sünde (German Edition)
Viviane war fort und das Krachen der Haustür hatte sie geweckt. Schwer sank sie auf das zerwühlte Bett, barg das Gesicht in den Händen und fühlte sich den Tränen nah. Von Anfang an hatte sie es gewusst und ihn gewarnt. Olivier würde die junge Frau ins Unglück stürzen, doch wie hätte sie vorhersehen können, wie schnell und präzise es ihm gelang? Ihre Hand mit dem Zettel sank herab und baumelte schlaff an ihrer Seite. Lautlose Tränen rannen aus ihren Augen. Verfangen in ihrer Trauer vergaß sie die Zeit.
Das Schlagen der Haustür schreckte sie abermals auf. Schnelle Schritte erklangen im Erdgeschoss. Ninon wischte ihre Tränen fort, sammelte das Kleid, den Unterrock und das Korsett vom Boden auf und wischte sich die Nase.
„Viviane!“, rief Olivier von unten.
Sein Ruf entlockte ihr ein bitteres Lächeln. Er kam die Treppe herauf, nahm mit seiner typischen Unrast zwei Stufen auf einmal. In derselben Eile hatte er ein Herz gebrochen. Von Anfang an musste er es geplant haben. Es war seine Rache an den Pompinelles. Am Ende hatte er diese Note sogar selbst geschrieben. Schließlich hatte er stets darauf geachtet, keine Kinder in die Welt zu setzen, und ausgerechnet jetzt sollte es geschehen sein?
„Viviane?“
Er kam den Gang entlang und bog in das Schlafzimmer ein. Ninon sah ihm entgegen.
„Sie ist nicht hier.“
„Wo ist sie? Ich habe einen Priester gefunden.“
Zum Teufel mit ihm, er spielte seine Farce bis zum bitteren Ende. Nässe schimmerte in seinem Haar, das Haarband war bis auf die Spitzen hinabgerutscht. Hinter ihm lag ein scharfer Ritt. Ihr Kinn begann zu zittern. Um ihn nicht länger ansehen zu müssen, drehte sie den Kopf zur Seite. Regentropfen zerplatzten auf der Fensterscheibe. Die Tristesse des dunklen Himmels fügte sich prächtig in dieses Trauerspiel, dessen Höhepunkt sie in seiner aufgesetzten Ahnungslosigkeit sah.
„Sie ist fort“, stellte sie barsch fest und legte die Kleidungsstücke aufs Bett.
Stumm musterten sie einander. Das Trommeln des Regens nahm zu. Ein Blitz zuckte aus den Wolken in den Bois de Boulogne. Das Gleißen brach sich im Grau seiner Augen. Direkt über dem Haus entlud sich der Donner und brach das Schweigen zwischen ihnen.
„Was hast du ihr erzählt? Welchen Unsinn hast du ihr eingeredet, du giftige, alte Natter?“
Bevor sie darauf erwidern konnte, holte er aus und schlug ihr ins Gesicht. Der Hieb warf ihren Kopf zur Seite und ließ sie zurücktaumeln. Eine Kante traf in ihre Kniekehlen. Schwer fiel sie in das Bett und drückte die brennende Wange an die Matratze. Aus dem Laken stieg der Duft erlebter Leidenschaft in ihre Nase. Gegen ihren Willen stiegen neue Tränen in ihre Augen. Jede Frau auf den Pariser Bühnen steckte früher oder später Schläge ein. Ninon war es ebenso ergangen. Manche Schauspieler schlugen zu, manche Bewunderer ebenfalls. Sie hatte Erfahrung und wusste damit umzugehen, doch von Olivier hatte sie das nicht erwartet. Weder im nüchternen noch betrunkenen Zustand hatte er jemals die Hand gegen eine Frau erhoben, und das zeigte ihr, dass sie sich in seinen Motiven geirrt hatte. Sein Mangel an Kontrolle über sich verriet den inneren Aufruhr und seine Verzweiflung. Schwer atmend stand er am Fußende des Bettes. Vorsichtig berührte sie mit der Zungenspitze ihren aufgesprungenen Mundwinkel und setzte sich auf.
„Ich habe dich gewarnt“, herrschte er sie an. „Du wusstest, was dir blüht, wenn du sie verschreckst. Kaum kehre ich dem Haus den Rücken zu, fällt dir nichts Besseres ein, als sie mit deinen läppischen Bedenken zu quälen. Ständig liegst du mir mit einer Heirat in den Ohren, und dann, wenn es so weit ist, erträgst du es nicht! Was ist los mit dir, Ninon? Was, verdammt noch mal, geht in deinem Schädel vor?“
Seine Stimme kippte. Mit aller Wucht trat er gegen den Bettpfosten. Draußen donnerte die Welt ihrem Untergang entgegen, und im Schlafzimmer packte er einen Stuhl und schleuderte ihn quer durch das Zimmer. Das Möbelstück prallte an die Wand, ein Stuhlbein brach.
„Dir ist es zu wenig, den Haushalt zu führen, du musst dich unbedingt auch in mein Leben einmischen. Seit Jahren nehme ich deine Sorgen und Ratschläge hin, doch diesmal bist du zu weit gegangen. Du wusstest, was sie mir bedeutet.“
Ja, jetzt wusste sie es.
Wortlos nahm sie das Billet von der Matratze auf und hielt es ihm entgegen. Ohne darauf zu achten, versetzte er dem geborstenen Stuhl einen Tritt, unter dem die Rückenlehne brach. Mehr
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