Kuss der Sünde (German Edition)
Laclos hatte vor einigen Jahren die Gemüter erhitzt. Die wenigstens wussten, wer der anonyme Autor war, der es wagte, die feine Gesellschaft und deren Hang zu Intrigenspielen zu entlarven. Marianne de Pompinelle hätte als Vo r bild für den Schriftsteller herhalten können, und dass eine ihrer Töchter au s gerechnet dieses Buch in Händen hielt, sprach für die verkommenen Chara k tere, die diese Familie hervorbrachte. Das Mädchen wandte sich wieder ihrer Lektüre zu, während der Junge einen trockenen Husten hören ließ und sich erneut seinen Tagträumen widmete.
Aus einer Seitentür schlüpfte Juliette aus dem Haus, machte einen Bogen um ihre Geschwister und strebte auf die Fliederbüsche an der Gartenmauer zu. Ein ganzes Stück von der Terrasse entfernt verließ sie den Gartenweg und bahnte sich einen Weg durch die Büsche. Das Rascheln der Blätter, das Kn a cken eines dünnen Zweiges weckte die Neugier ihres Bruders. Er sah zu den Büschen hinüber und ließ den Blick über die grünen Blätter schweifen, die sich bewegten, obwohl die Luft stillstand.
„Olivier“, hauchte sie andächtig, als sie auf ihn traf.
„Pst, wir müssen sehr leise … “
Bevor er seinen Satz beenden konnte, machte sie einen Satz, schlang die Arme um seinen Nacken und bot ihm ihre Lippen dar. Während er ihrem Verlangen nachgab, behielt er die Kinder auf der Terrasse im Auge. Das Mä d chen war in sein Buch vertieft, doch der Knabe nahm die Füße von einem Schemel und schien die Fliederbüsche einer genaueren Observation unterzi e hen zu wollen. Eine weitere Person betrat die Terrasse und vereitelte sein Vorhaben. Mittlerweile kannte Olivier die Anzahl der Kinder der s chönen Marianne. Dies musste ihre dritte und älteste Tochter sein. Ein breiter Stro h hut überschattete ihr Gesicht und verwandelte sie in einen Pilz auf einem eher gebrechlichen Stängel . Irgendetwas an ihrem hohen Wuchs, der geraden Ha l tung kam ihm vertraut vor. Er bog Juliettes Kopf leicht zur Seite, um ihre große Schwester besser sehen zu können. Mit der Biegsamkeit einer Gerte schnellte sie soeben nach vorn und blickte der Jüngsten über die Schulter.
„Pauline, wie kannst du nur! Woher hast du diesen Schund?“
„Aus Mamans Nachttischschublade“, gab das Mädchen freimütig zurück. „Außerdem ist es kein Schund.“
„Auf solchen Seiten findet sich nichts, was zu lesen wert wäre. Dieses Buch ist eine Ansammlung aus Niedertracht und Unzucht, eine perfide Schilderung verderbter Charaktere, die …“ Ihr schienen vor Empörung die Worte ausz u gehen. „Ein widernatürliches Werk, das den schlimmsten Anlagen Vo r schub leistet. Gib es her!“
Sie entriss ihrer Schwester das Buch und warf es quer durch den Garten. Im Flug entfalteten sich die Seiten, bevor es auf den gestutzten Rasen fiel. Justin brach in lautes Lachen aus, das kurz darauf in einem Hustenanfall mündete. Olivier beendete seinen Kuss.
„Wer ist das?“, wisperte er Juliette ins Ohr.
Kurz spähte sie durch die Blätter und verdrehte die Augen. „Viviane, eine entsetzliche Plage. Seitdem sie zurück ist, verdirbt sie jedem die Laune. In der Bretagne wäre sie besser aufgehoben. Beachte sie nicht.“
Schwierig bei einer Frau dieser Größe und Verve. Er benetzte Juliettes Hals mit kleinen Küssen und beobachtete die drei auf der Terrasse, deren Familie n leben sich sehr viel weniger von dem anderer unterschied, als er vermutet hatte.
„Ich halte dieses Buch für lehrreich“, wandte Pauline ein.
„Was bitte ist lehrreich an einem Lustmolch, der um die Tugend einer a n ständigen Frau wettet? Lügen über Lügen von ihm und einer kleinen Intriga n tin, die jedem mit einem Funken Anstand im Leib das Leben schwer macht. Dieses Buch ist eine Schande!“
Juliette hatte genug von Küssen auf ihren Hals und drehte den Kopf. Wä h rend Olivier sie küsste und seine Zungenspitze in ihren Mund schlüpfte, spit z te er die Ohren.
„Du hast das Buch demnach selbst gelesen, Viviane“, begehrte die kleine Schwester auf.
„Selbstverständlich, ich muss schließlich wissen, wovon ich spreche.“
„Dann weißt du auch, dass Valmont seinen Verrat bitter bereute, Madame Tourvel am Ende aufrichtig liebte und sein Leben für sie gab. Es ist so wu n derbar romantisch!“
„Nichts ist romantisch an einem gewissenlosen Unhold. Gleich auf den er s ten Seiten hätte er sterben müssen, anstatt die Gelegenheit zu erhalten, eine tugendhafte Frau zu entehren.“
„Dann wäre das
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