Kuss der Sünde (German Edition)
sie argwöhnisch. Sobald der Rausch verflog und sie ihren Irrtum erkannte, würde eine kleinere Version der Hölle über ihn hereinbrechen.
Beschwörend hob er die Hände. „Ganz ruhig. Sie sind hier in Sicherheit. Es ist alles in Ordnung.“
Zu spät. Sie hatte begriffen und sprang mit einem schrillen Schrei aus dem Bett. Dabei verhedderte sie sich in der Bettdecke und fiel zu Boden. Olivier schnellte auf, ehe der dumpfe Schlag ihres Sturzes zu hören war. Eilig umrundete er das Bett, doch sie stand schon wieder auf den Beinen, raffte unnötigerweise die Decke an sich und schlug nach ihm.
„Rühren Sie mich nicht an. Sie Unmensch!“
„Ich wollte lediglich …“
„Ich weiß genau, was Sie wollen. Oh, und ich war so dumm und ersehnte einst dasselbe. Halten Sie sich bloß fern von mir!“
Was meinte sie? Was hatte sie ersehnt? Ehe er nachhaken konnte, preschte Ninon ins Zimmer, alarmiert von Vivianes lauter Stimme. Das tizianrote Haar seiner Haushälterin und Vertrauten flammte unter einem schlichten Haarnetz auf. Über dem Nachthemd trug sie ein Schultertuch. Anklagend wies Viviane auf ihn.
„Dieser Mann ist der Leibhaftige. Es fehlt nur der Pferdefuß. Als ich aufwachte, wollte er sich an mir vergehen und nannte sich einen Elfenprinzen.“
„Sie fantasiert, Ninon“, rechtfertigte er sich sofort. „Sie hielt mich für einen Elf. Es liegt daran, dass sie sich den Kopf aufgeschlagen hat.“
Prompt berührte Viviane ihren Hinterkopf. „Das habe ich Ihnen zu verdanken!“
Ninon wehte in ihrem weiten Nachthemd auf sie zu. „Bitte, beruhigen Sie sich, Mademoiselle. Monsieur Favre fand sie heute Nacht auf der Straße und brachte Sie hierher. Sobald es Ihnen besser geht, bringt er Sie nach Hause.“
Über Ninons Kopf hinweg fasste Viviane ihn ins Auge. Kurz schien es, als wollte sie es glauben, dann verschmälerten sich ihre leicht schräg stehenden Augen zu Schlitzen. „Ich weiß genau, dass etwas im Wein war. Er wollte mich vergiften.“
„Aber nein, aber nein“, gurrte Ninon und wurde von Olivier übertönt.
„Das ist absoluter Blödsinn. Es war ein Beruhigungsmittel, etwas gegen die Schmerzen. Sie stehen völlig neben sich.“
„Ich weiß genau, wo ich stehe, Monsieur. In einem Zimmer, in dem ich niemals stehen sollte.“
Über die Schulter warf Ninon ihm einen bösen Blick zu. Sie wusste, was er in den Wein gegeben hatte. Ungehalten winkte er ab. Obwohl Viviane vor Entrüstung zitterte, war er sich keiner Schuld bewusst.
„Bitte legen Sie sich hin und beruhigen Sie sich, Mademoiselle“, wiederholte Ninon. „Sie haben sich am Kopf verletzt und müssen ruhen.“
Widerstrebend ließ sie sich von Ninon zum Bett führen und setzte sich. Als sie an ihm vorbeiging, wurde sie abermals laut.
„Weshalb starren Sie mich so an?“
„Weil Sie herumkreischen wie ein Fischweib, daran wird’s wohl liegen.“
„Nun reicht es“, mischte sich Ninon ein. „Deinen Wortwitz kannst du dir sparen, Olivier. Du hast ihr übel genug mitgespielt. Lass uns allein, ich kümmere mich um sie.“
In all den Jahren wurde er zum ersten Mal von Ninon abgekanzelt wie ein dummer Junge. Während er verdutzt schwieg, nickte Viviane zu ihren Worten. Mit einem letzten Fluch trollte er sich.
Den Rest des Vormittags verbrachte Ninon damit, es ihrem Gast behaglich einzurichten und die Wogen zu glätten. Als Olivier einige Stunden später erwachte und in die Küche kam, herrschte in den Kochtöpfen gähnende Leere. Nicht allein, dass Ninon ihn herunterputzte, nun wurde er auch noch im eigenen Haus auf den hintersten Platz verwiesen.
Viviane benötigte den Rest des Tages, um die losen Gedankenfetzen sinnvoll miteinander zu verknüpfen.
Ihrer Situation haftete etwas zutiefst Surreales an. Es war von bizarrer Monstrosität, in einem fremden Haus zu sitzen und von einer fremden Frau mit leuchtend rot gefärbtem Haar umsummt zu werden. Sie lockte sie in einen Zuber mit lauwarmem Wasser und reichte ihr nach dem Bad ein schlichtes Baumwollnachthemd mit hohem Kragen und einen Morgenmantel aus hellrosa Seide. Beides war zu kurz und ließ ihre Fußknöchel unbedeckt. Zunehmend fühlte sie sich wie ein groteskes Geschöpf in einer ebenso grotesken Umgebung, die ihr trotz aller Bemühungen der Frau namens Ninon kaum den Anschein von Normalität vermitteln konnte.
Nach dem Genuss zweier Teller mit würzigem Kanincheneintopf fand sie zu einem Mindestmaß an Nervenstärke. Nach Stunden hilfloser Irritation hatte sich ihr
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