Kuss der Sünde (German Edition)
Höflings. Soweit mir bekannt ist, steigen junge Damen Ihres Standes nicht in fremde Häuser, um sich eines Diebstahls schuldig zu machen. Wenn wir den Hintergrund dieser Briefe beiseitelassen, komme ich zu dem Schluss, dass Ihre Absichten kaum anständiger waren als meine. Das Fazit wäre, dass alles, was Sie über mich behaupten, ebenso gut auf Sie zutrifft.“
Fassungslos starrte sie ihn an. „Wie können Sie es wagen, Vergleiche anzustellen?“
Ein provokantes Grinsen war die Antwort. Es lag ihm nicht allein an Informationen. Es steckte mehr dahinter. Nichts von dem, was sie gesagt hatte, war ihm neu. Scheinbar diente die seltsame Unterhaltung mehreren Zwecken. Er beobachtete sie, und obwohl er stillsaß, hatte sie den Eindruck, er würde sie einkreisen. „Sie haben alles Wissenswerte erfahren, Monsieur. Es gibt keinen Grund, mich hier festzuhalten.“
„Hm“, brummte er wenig überzeugt.
Entschieden erhob sie sich. „Die Polizei wird bereits nach mir suchen. In Ihrem eigenen Interesse sollten Sie mich gehen lassen. Sie können nichts gewinnen, wenn Sie mich einsperren. Ganz im Gegenteil.“
In seinen Augen zogen schiefergraue Gewitterwolken auf. „Setzen Sie sich, Mademoiselle“, grollte es tief aus seinem Brustkorb.
Aufrecht blieb sie stehen und drückte die Knie durch.
„Setzen!“, herrschte er sie an.
Langsam sank sie auf den Stuhl zurück. Er legte die Briefe auf die Kante des kleinen Tischs an seiner Seite und schenkte Wein in zwei Gläser. Abfällig rümpfte sie die Nase. Sie hatte einmal den Fehler begangen, vertrauensvoll von ihm etwas entgegenzunehmen. Er hob sein Glas, nippte daran und musterte sie über den Rand hinweg.
„Ich werde versuchen, es zu erklären. Zunächst einmal sollen Sie wissen, dass ich gewöhnlich nicht nachtragend bin. Ich bin durchaus in der Lage, fünfe gerade sein zu lassen. In Ihrem Fall jedoch …“ Leicht schüttelte er den Kopf und stellte sein Glas ab. „Sie haben mich in einen Misthaufen gestoßen, mitten hinein in widerwärtig stinkende Pferdepisse, und sich dann aus dem Staub gemacht. Tagelang habe ich gestunken. Können Sie sich das vorstellen? Wahrscheinlich nicht, weil Sie keine Ahnung haben, was es heißt, bis zum Hals im Dreck zu stecken.“
„Sie werden vulgär.“
„Diesen einen Vorfall könnte ich in meiner Großmut als kindische Kapriole einer übermütigen jungen Dame abtun, die ansonsten nichts mit ihrer Zeit anzufangen weiß. Da es nun aber diese Briefe betrifft, so sind Sie mir einmal zu oft und zum falschen Zeitpunkt in die Quere gekommen. Für Sie mag es nur ein weiteres aufregendes Abenteuer gewesen sein, wie das Reiten in Männerkleidung und im Herrensattel. Für mich, und das müsste Ihnen begreiflich sein, sofern Sie für eine Unze Verstand besitzen, grenzt Ihr Verhalten an eine nie da gewesene Selbstüberschätzung.“
Seit einiger Zeit konnte sie seinen Worten lediglich mit runden Augen folgen. Seine verbalen Hiebe waren von einer Präzision, unter denen sich jede andere weggeduckt hätte. Es war ein frontal geführter Angriff auf ihre Person, und es war ihm gelungen, sie mit jedem Satz tiefer zu treffen. Er führte die Fingerspitzen aneinander und sah sie darüber hinweg mit diesem kristallklaren Blick an, der ihr Inneres zu durchdringen schien.
„Ich weiß mittlerweile genug über Sie, Mademoiselle, um mir darüber klar zu sein, wohin es führen würde, wenn ich Sie einfach gehen lasse. Somit werden Sie bleiben, bis ich schlüssig geworden bin, wie gefährlich Sie mir werden können.“
Der Mann war verrückt. Verrückt und unverschämt und hatte zu viel von dem Zeug getrunken, das er in ihren Wein gepantscht hatte. Anders konnte sie es sich nicht erklären. Einem solchen Charakter gegenüber musste sie eine andere Taktik auffahren. Solche Leute gierten regelmäßig nach Verständnis und Bewunderung. Nun, letzteres fiel ihr schwer, da sie ihm liebend gern das dichte Haar in Büscheln ausgerissen hätte, aber Verständnis konnte sie vortäuschen. Sie setzte ein Lächeln auf, das sie immer dann benutzt hatte, wenn sie von ihren Eltern oder ihrer Großmutter erwischt worden war. Schon als kleines Mädchen hatte sie es vor dem Spiegel einstudiert. Eine Fee kann alles vortäuschen.
„Ich sehe nun klarer“, sagte sie sanft und faltete die Hände im Schoß. „Das Leben hat Sie bitter enttäuscht und verführte Sie zu einem zweifelhaften Lebenswandel. Das höre ich aus jedem Wort heraus, und doch …“ Kurz verlor sie den
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