Kuss des Apollo
sich einließ, nahm gern Geschenke entgegen, jedoch kein Geld. So dumm war sie nicht, dass sie die Grenze nicht kannte, die sie von diesem oder jenem Leben trennte.
Was sie aber dann dazu brachte, Thomas zu verlassen, war nicht ein Mann, sondern eine Frau.
Es war an einem Nachmittag im November 1974, es regnete, sie saß bei Kranzler am Kurfürstendamm und trank Kaffee. Kuchen konnte sie sich nicht leisten. Sie sah wieder hübsch aus, kleidete sich besser dank den verschiedenen Bekanntschaften, die sie gemacht hatte. Unter anderem hatte es den Besitzer einer Boutique am Kurfürstendamm gegeben, der sie mit schicker Garderobe ausgestattet hatte. Denn wie gesagt, Geld nahm sie nicht. Mit ihm verbrachte sie gelegentlich die Nächte in einem kleinen Hotel in der Kurfürstenstraße, denn er war verheiratet, erklärte jedoch, dass er sich von seiner Frau scheiden lassen wollte.
Das war Tilla nicht weiter wichtig. Verheiratet war sie auch, und auf eine neue Ehe legte sie keinen Wert. Und besonders groß war ihre Zuneigung zu diesem Mann auch nicht. Und diese Art von Freiheit, die sie lebte, gefiel ihr recht gut.
Ein zweiter Verehrer war der Besitzer eines kleinen Restaurants, der sie zum Essen einlud und ihr öfter eine Flasche Wein mitgab, die sie dann wiederum ihrem Mann mitbrachte.
Noch lebten sie ja zusammen. Thomas wusste, dass sie ihn betrog, und es war ihm gleichgültig. Er hatte inzwischen neue Kollegen kennen gelernt und Freunde gewonnen. Einer davon würde ihn später beim Fernsehen, das inzwischen eine große Rolle spielte, empfehlen.
Sie hatten inzwischen eine Wohnung am Wittenbergplatz. Das war eigentlich zu viel gesagt, es waren zwei Zimmer in einer großen Wohnung, die von der Besitzerin vermietet wurden. Außer ihnen wohnten noch drei andere Parteien darin. Das, was seine Mutter bei ihrem ersten Besuch gepriesen hatte, ein eigenes Bad, ein eigenes Klo, geschweige denn eine eigene Küche, hatten sie hier nicht.
Dorothea Bantzer kam gelegentlich zu Besuch, blickte abschätzig auf die bescheidene Behausung und war nach wie vor höchst zufrieden mit ihrem Leben. Ihre Schwiegertochter traf sie niemals an. Sie fragte nicht nach ihr. Zufrieden war sie auch, als Thomas das Engagement hatte, und erst recht, als er seine erste Rolle in einem Fernsehspiel bekam.
Richtige Fernsehspiele gab es zu jener Zeit noch, eine Handlung mit guten Schauspielern, nicht wie später viel Brutalität und die so genannten Seifenopern.
Einen eigenen Fernsehapparat hatte Thomas nicht, aber sie durften bei der Besitzerin der Wohnung, die sich mit Geraldine angefreundet hatte, im Wohnzimmer sitzen und das Fersehspiel ansehen. Thomas hatte nur eine kleine Rolle, doch sie war wichtig, und er machte seine Sache gut und sah hervorragend aus. Es war immerhin ein Anfang, er war nun beim Sender Freies Berlin in der Kartei, und ab und zu bekam er Arbeit.
Ulbricht gab es nicht mehr, im Osten regierte ein gewisser Honecker.
»Gefällt der dir besser?«, fragte Thomas seine Mutter.
»Auch nicht besonders. Man muss eben abwarten, wie er sich macht.«
Im Westen, in Bonn, hieß der Bundeskanzler Willy Brandt, und es gab jetzt etwas bessere Beziehungen zwischen Ost und West, Besuche und Gespräche fanden statt.
»Es gab da so ein geheimes Zauberwort«, erzählte Thomas seiner Tochter zwanzig Jahre später, »das hieß Wiedervereinigung. Im Westen sprach man es aus, im Radio, im Fernsehen hörte man es. Im Osten existierte das Wort nicht. Und jetzt sitzen wir hier in einem vereinigten Deutschland. Ich kann es immer noch nicht fassen. Es war das größte Erlebnis meines Lebens.«
»Größer als der Krieg?«, fragte Geraldine.
»Ja. Ich habe nicht daran geglaubt. Und wenn man davon träumte, dann wusste man bestimmt, dass man es nicht erleben würde.«
Man schrieb das Jahr 1994, und sie saßen, und das war vielleicht ein noch größeres Erlebnis, in der Wohnung in der Schumannstraße, in der Thomas aufgewachsen war.
Und genau zwanzig Jahre war es her, dass Tilla ihren Mann verlassen hatte, oder besser gesagt, sich nach und nach von ihm trennte, was beiden gut bekam.
An diesem Novembernachmittag also lernte Tilla eine Dame kennen, die sich im Café Kranzler zu ihr an den Tisch setzte.
»Ein heißer Kaffee wird gut tun«, sagte die Fremde. »Sie gestatten, dass ich mich einfach zu Ihnen setze. Ziemlich voll hier.«
Der Kaffee wurde bestellt, der Kuchen ausgesucht.
»Sie essen keinen Kuchen?«, wurde Tilla gefragt. Die Fremde wollte sich
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