Kuss des Apollo
hinaus.
»Ich muss in die Dunkelkammer.«
Für Tilla war es ein neuer Abschnitt ihres Lebens. Nach und nach gewöhnte sie sich daran, Handlangerdienste zu verrichten, kleine Aufgaben zu übernehmen, aufzubauen, abzuräumen, Kaffee zu kochen, auch gelegentlich einkaufen zu gehen.
Eines Tages drückte ihr Tanja einen Hundertmarkschein in die Hand.
»Aber nein! Wozu denn?«, wehrte sie ab.
»Du hilfst mir doch, oder nicht? Alle, die hier arbeiten, werden von mir bezahlt. Wenn du nicht mehr kommen willst, brauchst du es nur zu sagen.«
Tanjas direkte Art verblüffte Tilla immer wieder, und gleichzeitig imponierte sie ihr. Und sie wollte gern kommen, in dieses Haus, in dieses Atelier, zu dieser erstaunlichen Frau, die klug und erfolgreich war und außerdem eine Menge Geld verdiente. Tillas missmutige Miene verlor sich allmählich, sie hatte eine Aufgabe, hatte ein Ziel, wenn sie die Wohnung am Wittenberger Platz verließ und in die U-Bahn zum Lehniner Platz stieg.
Einmal erwähnte sie das auf ihre ungeschickte Weise Tanja gegenüber.
»Was heißt, du hast etwas zu tun? Arbeiten kann man das nicht gerade nennen, was du hier machst. Du lungerst herum, siehst zu, hörst zu und holst mal frische Brötchen. Du hast schließlich Mann und Kind, gibt es in deinem Haushalt denn gar nichts zu tun?« Solche Fragen brachten Tilla in Verlegenheit.
Es war Thomas, der sich um Geraldine kümmerte. Er brachte sie zur Schule und holte sie wieder ab, falls er keine Proben hatte. Er kaufte in der Lebensmittelabteilung im KaDeWe für sie ein, und wenn er Geld hatte, ging er mit Geraldine zum Italiener, denn Spaghetti aß sie am liebsten.
Tanja sagte: »Ich möchte deinen Mann und deine Tochter kennen lernen.«
Und wenn Tanja etwas wollte, dann geschah es auch.
Sie bestimmte dafür einen Sonntag.
Es war sehr warm und sonnig an diesem Tag. Auf dem Kurfürstendamm waren alle Plätze vor den Cafés und Restaurants besetzt, und soweit die Westberliner ans Wasser konnten, waren sie zum Schwimmen gegangen.
Das war das Erste, was Tanja das Mädchen fragte.
»Kannst du schwimmen?«
Geraldine antwortete: »Ja. Ich schwimme sehr gern. Wir waren gestern am Wannsee, mein Papi und ich.«
Sie drückte sich klar und deutlich aus, das hatte sie schon gelernt. Sie war nicht befangen der fremden Dame gegenüber, das konnte gar nicht geschehen, wenn man Tanjas Gesicht, ihre Augen sah, ihre Stimme hörte.
Thomas war ohne Zögern dieser Einladung gefolgt. Er hatte schon so viel von dieser seltsamen Frau gehört, dass er neugierig geworden war. Denn er musste zugeben, dass der Umgang mit der Fotografin Tillas Stimmung deutlich verbessert hatte: Die missmutige Miene war verschwunden. Und Tilla erzählte oft ganz begeistert von dem, was sie im Atelier erlebt hatte, warf immer öfter mit Fachausdrücken um sich.
Es wurde ein langer Nachmittag, erst gab es Kaffee und Kuchen, später ließ Tanja aus einer Kneipe in der Nähe Abendessen heraufbringen.
Sie sah mit Vergnügen, wie es dem kleinen Mädchen schmeckte, erwiderte den staunenden oder erfreuten Blick des Kindes, sie lächelte, und Geraldine lächelte auch.
Was Tanja an diesem Tag dachte und ganz entgegen ihrer direkten Art nicht aussprach: Diese Tilla ist eine dumme Pute. Ein charmanter Mann, ein hübsches Kind, warum kann sie damit nichts anfangen? Charmant war Thomas immer gewesen, und er sah auch noch sehr gut aus. Er erzählte ein wenig von früher, von Meiningen, von Coburg und von der Reise mit der Truppe.
Es blieb das einzige Treffen. Doch Thomas war befriedigt, dass er die Fotografin nun kannte, und noch befriedigter, dass Tilla beschäftigt war und der ewige Streit ein Ende gefunden hatte. Noch besser, jedenfalls soweit es Tilla betraf, wurde es im folgenden Winter. Es war kalt, es war glatt auf den Straßen. Tanja, wie immer in Eile, rutschte aus, fiel hin und brach sich das Fußgelenk. Das bedeutete einige Wochen Gips. Nun wurde Tilla wirklich unentbehrlich. Essen und Getränke mussten organisiert werden, die Assistenten brauchten dies und das, die Modelle mussten mit Kleidern und Schminke versorgt werden. Tilla wurde zu einer echten Hilfe. Und sie wurde für ihre Arbeit bezahlt. Sie hatte keinen Beruf, aber sie gehörte zum Stab, wie Tanja es nannte. Das blieb auch so, nachdem Tanjas Fuß geheilt war. Denn verstärkt konzentrierte sich Tanja nun auf die Arbeit an ihrem Buch
Frauen unserer Zeit
, mit dem sie später berühmt wurde. Reisen gehörten dazu, schließlich übersiedelte
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