Kuss des Apollo
verstehen.
»Er ist Witwer, aber an Heirat denken wir nicht. Es ist so«, sie lachte ein wenig verlegen, »man wird anspruchsvoll, wenn man gewohnt ist, allein zu leben. Man fühlt sich freier, um noch einmal von Freiheit zu sprechen. Man hat sein eigenes Bad und sein eigenes Klo. Man kocht, wann man will und was man will, und wenn man nicht will, dann eben nicht. Ich fühle mich wohl in der Wohnung in der Schumannstraße, du kennst sie ja. Keine Einquartierung mehr wie nach dem Krieg. Das Theater hat mir dazu verholfen, dass ich sie behalten konnte.«
»Wie sieht es in der Wohnung jetzt aus?«, fragte Thomas.
»Du würdest sie nicht wiedererkennen. Ich habe sie ganz neu eingerichtet. Mit Stoffen und Requisiten von der Bühne. Die Theater werden gut versorgt, an denen wird nicht gespart. Und dein Klavier ist auch noch da.«
»Und dein … dein Freund? Lebt der auch allein?«
»Sein Sohn lebt bei ihm. Der studiert Medizin. Das heißt, er ist schon fast fertig, er arbeitet an der Charité. Das ist sehr praktisch, man hat immer einen Arzt zur Hand. Wir verstehen uns gut.«
»Aha«, machte Thomas dumm.
»Er hat noch eine Tochter, die ist verheiratet und hat schon zwei Kinder. Sie leben in Potsdam. Mit ihr verstehe ich mich auch gut.«
Dann mit einem Blick auf Geraldine: »Ein Kind hast du ja nun auch. Niedlich, die Kleene.«
Großmütterliche Gefühle schien sie nicht zu haben, die neue Familie stand ihr offenbar näher.
Sie war freundlich, aber reserviert zu Tilla, die wegen der schlechten Stimmung, in der sie sich meist befand, viel von ihrem Liebreiz eingebüßt hatte. Und gekleidet war sie außerordentlich schlampig. Dass das im Westen jetzt Mode war, konnte Dorothea nicht wissen. Immerhin benahm sich Tilla recht gut bei diesem ersten Treffen mit ihrer Schwiegermutter, sie war sogar ein wenig schüchtern. Was verständlich war. Alt und einsam hatte Thomas gesagt, eine armselige Frau hatten sie erwartet, eine selbstbewusste, elegant gekleidete Dame saß ihr gegenüber.
Die billige Pension in der Kantstraße missfiel Dorothea.
»Hier könnt ihr nicht bleiben, das ist doch fürchterlich«, sagte sie und sah sich mit strafender Miene in dem kleinen, schlecht möblierten Zimmer um.
Thomas stieg das Blut in den Kopf, dies war der Moment, wo der Abstand zu seiner Mutter begann.
»Selbstverständlich nicht«, sagte er. »Wir sind ja noch nicht lange da. Ich muss erst ein Engagement haben.«
»Ich würde dir zum Schillertheater raten. Barlog ist ein guter Mann. Wir«, und das klang nun geradezu überheblich, »haben mehr Theater als Westberlin. Und bessere dazu. Warum bist du nicht in München geblieben?«
»Vielleicht kehren wir dorthin zurück«, und jetzt klang Ärger in seiner Stimme mit. Eigentlich hätte er sagen müssen: Ich wollte dich wiedersehen, Mama.
Er hätte sie gern in ein Lokal zum Essen eingeladen oder wenigstens in ein Café. Nicht weit entfernt um die Ecke war die Bar vom Kempinski, stattdessen saßen sie in dem kleinen miesen Zimmer.
Aber er hatte kein Geld mehr. Er wusste schon jetzt nicht, wovon er die Miete für die nächste Woche bezahlen sollte.
Er war erleichtert, als seine Mutter ging.
Geraldine, drei Jahre alt, die neben ihm auf dem schäbigen Sofa saß und die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben hatte, schob ihre kleine Hand in seine Hand. Sie spürte seinen Kummer. Er hielt die Hand des Kindes fest, Tränen würgten ihn im Hals.
»Deiner Mutter geht es ja offenbar recht gut. Vielleicht solltest du mit ihr wieder in den Osten gehen«, giftete Tilla. »Mit der so genannten Freiheit kannst du ja nicht viel anfangen.« Er stand auf, verließ das Zimmer, verließ das Haus, ging mit raschen Schritten stadtauswärts, lief nur so vor sich hin und weinte.
Ein festes Engagement bekam er lange nicht, dann aber eine recht gute Rolle an einem der Boulevardtheater am Kurfürstendamm. Das lief ziemlich lange, fand den Beifall der Presse und des Publikums. Und das verschaffte ihm den Kontakt zum Fernsehen, allerdings erst Mitte der Siebzigerjahre. Er sah immer noch sehr gut aus, besonders nachdem sich seine Verdrossenheit gelegt hatte. Und, das darf nicht verschwiegen werden, nachdem er Tilla los war.
Berlin bekam ihr gut. Sie strolchte in der Stadt umher, saß oft in der Bar des Kempinski oder bei einem Italiener, machte die Bekanntschaften verschiedener Männer, ließ sich ausführen und folgte ihnen auch in eine Wohnung, in ein Hotel, in ein Bett.
Sie überlegte genau, mit wem sie
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