Kuss des Apollo
wieder den Kopf, doch dann brach es aus ihr heraus.
»Ich hatte einen Beruf. Aber das ist lange her.«
»Und was war das für ein Beruf?«
»Ich war Tänzerin.«
»Sieh an, das passt ganz gut. Erzählen Sie mir davon, aber schön der Reihe nach.«
Das war Tilla noch nie passiert, dass sich jemand für sie interessierte, etwas über ihr Leben wissen wollte.
Und sie erzählte dieser Tanja alles über ihr Leben, nicht so schön der Reihe nach, eher etwas wirr, aber immerhin hatte die Fotografin Tanja Ewers danach ein recht genaues Bild von dem, was Tilla in ihrem Leben widerfahren war. Mitten im Krieg geboren, der Vater schon gefallen, die Mutter auf der Flucht aus Ostpreußen von Russen vergewaltigt, an den Folgen der Vergewaltigung starb sie, was Tilla nicht wissen konnte, dazu war sie zu klein gewesen. Das erfuhr sie von ihrer Tante, die überlebt hatte, in deren Obhut sie nach Gera kam, später nach Meiningen, wo sie, ohne gefragt zu werden, in die Ballettschule gesteckt wurde. Dadurch bekam man zu essen, und das Kind war untergebracht.
So erzählte es Tilla nicht, doch Tanja Ewers übersetzte es sich so, denn die Tante verschwand mit einem Mann gen Westen und überließ das Kind seinem Schicksal und der Ballettschule.
»Und? Warst du eine gute Tänzerin?«
Nun schwindelte Tilla allerdings. Es fiel ihr gar nicht auf, dass die fremde Frau sie auf einmal duzte.
»Doch. Ich hätte bald ein Solo bekommen.«
Dann die Liebe, die Flucht, das ungewisse Leben, das Kind. Und nun die bescheidenen Verhältnissen in zwei Zimmern in einem fremden Haushalt und meist allein in dieser zwar geteilten, aber großen, erbarmungslosen Stadt.
»Wie heißt du denn?«
»Tilla Bantzer. Eigentlich heiße ich Mathilde. Aber ich wurde immer nur Tilla genannt.«
»Und du bist nie auf die Idee gekommen, dir Arbeit zu suchen?«
»Was für eine Arbeit denn? Ich kann doch nichts. Tanzen kann ich nicht mehr, das ist vorbei. Wenn man nicht ständig trainiert, geht das nicht mehr.«
»Und sonst kannst du gar nichts?«
»Gar nichts«, sagte Tilla, es klang geradezu befriedigt.
Sie saßen ziemlich lange bei Kranzler.
Immerhin änderte sich Tillas Leben von diesem Tag an.
Tanja Ewers verdiente recht gut mit ihren Fotos. Sie war eine erstklassige Künstlerin, ihre Bilder waren meist viel schöner als in Wirklichkeit. Doch sie machte auch ganz lebensechte Bilder, und was sie jetzt plante, war ein Buch, das sie selbst herausgeben wollte, mit dem Titel
Die Frau unserer Zeit.
Sie wollte nicht nur schöne geschminkte Künstlerinnen porträtieren, sondern Frauen des Alltags, arbeitende Frauen, von der Chefetage bis zum Kiosk an der Straßenecke. Deshalb lief sie ständig mit suchenden Augen durch die Straßen.
Das alles erfuhr Tilla nicht an diesem ersten Tag, aber so nach und nach wurde sie in diesen Plan eingeweiht.
Tanja Ewers besaß ein riesiges Atelier mit Dunkelkammer und Werkstatt im Obergeschoss eines Hauses am Lehniner Platz. Das Atelier lernte Tilla schon drei Tage später kennen, nachdem sie zu einem Besuch aufgefordert worden war. Zunächst tat sie nichts anderes, als zuzuschauen, denn Tanja hatte mehrere Modelle da, mit denen sie arbeitete. Zwei Assistenten hatte sie auch, es ging lebhaft zu, die Modelle mussten sich umziehen und ausziehen, auch Nacktaufnahmen wurden gemacht, was Tilla stumm staunend erlebte. Es ging dabei ganz sachlich zu, ob eine Frau etwas anhatte oder nicht, machte nicht den geringsten Unterschied.
Nach Feierabend, saßen sie alle friedlich beisammen, tranken Bier und sprachen über die nächsten Pläne.
Tilla erfuhr, dass Tanja geschieden war und zwei Söhne hatte, die in Salem erzogen wurden. Auch davon hörte Tilla das erste Mal. Als sie ging, sagte Tanja: »Übermorgen kommst du wieder, da mache ich mal ein paar Schüsse von dir.«
Sie lachte, als sie Tillas angstvolles Gesicht sah.
Sie griff hinter einen Vorhang, holte ein langes, kornblumenblaues Gewand hervor.
»Das wirst du anziehen. Pietro wird dich zurechtmachen, das kann er gut. Kein Friseur bitte, wir machen das ganz natürlich.«
Thomas zuckte nur die Schultern, als Tilla ihm davon erzählte. Ihre Seitensprünge gehörten längst zum Alltag. Nun also lesbisch. Doch davon konnte keine Rede sein. Es blieb immer bei sachlicher Arbeit und bei ihren abendlichen Gesprächen bei Bier oder Wein. Manchmal war das Atelier voll von Leuten, Kollegen und Freunden von Tanja, es wurde geredet, gefachsimpelt und viel gelacht.
Irgendwann warf Tanja alle
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