Kuss des Apollo
offenbar unterhalten.
»Nein. Besser nicht.«
»Wieso besser nicht? Sie sind doch gertenschlank.«
»Nicht wegen meiner Figur. Ich muss sparen.«
»Aha.«
»Woher wollen Sie wissen, dass ich schlank bin? Ich sitze hier bequem in einem Sessel, die untere Hälfte von mir können Sie gar nicht sehen«, sagte Tilla herausfordernd und etwas irritiert von dem intensiven Blick, mit dem sie betrachtet wurde.
»Nun, Sie sind ungefähr eine Viertelstunde lang vor mir hergegangen, hübsch langsam, haben Schaufenster beguckt, mit dem Schirm gespielt, dann verschwanden Sie hier und gingen hinauf in den ersten Stock.«
»Und?«, fragte Tilla.
»Der Regen nahm zu, ich kehrte um, entschloss mich Kaffee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen. Und siehe da. Sie saßen allein an diesem Tisch.
Voilà, c’est tout
.«
Eine Weile schwieg Tilla und wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Das verstehe ich nicht«, murmelte sie schließlich.
»Was ist daran so schwer zu verstehen? Wenn man jemanden sieht, der einem gefällt, warum sollte man nicht versuchen, den Betreffenden kennen zu lernen?«
Die Fremde drückte sich sehr gewählt aus, sie sprach nicht berlinerisch, hatte überhaupt keinen Dialekt.
»Sie wollen sagen, ich gefalle Ihnen? Das habe ich lange nicht mehr gehört.«
»Ich glaube, ich kann Ihnen auch sagen, warum.«
Tillas Mund öffnete sich wieder vor Staunen. Doch sie stellte keine Frage.
Antwort bekam sie sowieso.
»Es liegt daran, dass Sie mit missmutiger Miene durch die Gegend laufen. Sie ziehen die Lippen nach unten, obwohl Sie einen ganz hübschen Mund haben, wie ich jetzt sehe. Ihr Blick war finster, jetzt sehen Sie mich an, etwas verwundert könnte man sagen, aber nicht mehr finster. Und wenn Sie mal lächeln würden, fände ich das gut.«
Tilla lächelte nicht nur, sie lachte sogar kurz.
»Sie sind aber komisch. Machen Sie das immer so, dass Sie fremde Leute einfach …«
»Beobachten, wollen Sie sagen. Ja, das tue ich. Immer und überall. Ansehen, nachschauen, beobachten, und falls es mir gefällt, ein Gespräch versuchen. Es ist mein Beruf.«
»Ach!«, machte Tilla erstaunt.
Die Dame hatte ihren Kuchen verspeist, trank den letzten Schluck Kaffee und wartete auf die Frage, die eigentlich kommen musste. Es kam keine Frage. Tilla war nun verwirrt, sogar ein wenig verängstigt, kein Lächeln lag mehr auf ihrem Gesicht.
Ihr Gegenüber lächelte.
»Jetzt sehen Sie aus wie ein Kind, das sich fürchtet«, sagte die Dame. »Warum?«
»Man weiß ja nicht …«, stammelte Tilla, »heutzutage … man hört immer so komische Sachen … und ich …« Sie verstummte.
»Was für komische Sachen denn?«
»Na ja, ich meine, Spionage und so.« Jetzt flüsterte Tilla.
Die Dame lachte. »Wir sind hier nicht im Osten. Man kann allerdings auch auf dieser Seite Leute als Spione anwerben. Aber, entschuldigen Sie, dafür sind Sie zu dumm.«
Das war deutlich. Nun hatte es Tilla die Sprache verschlagen.
»Das war unhöflich, nicht wahr? Man könnte besser sagen: Sie sind zu harmlos. Ich glaube, ich trinke noch einen Cognac. Mögen Sie auch?«
Tilla schüttelte den Kopf, die Dame winkte der Bedienung und bestellte trotzdem zwei Cognac.
»Ich heiße Tanja Ewers«, sagte sie dann. »Und ich bin Fotografin.«
»Ach so«, machte Tilla und errötete unwillkürlich.
»Wenn Sie Illustrierte oder Frauenzeitschriften läsen, würden Sie meinen Namen kennen. Ich fotografiere Schauspieler, Sänger, Filmstars und solche, die sich dafür halten, außerdem mache ich Modeaufnahmen. Da arbeite ich viel mit hübschen Mädchen. Oder jedenfalls sehen sie hübsch aus, wenn ich sie fotografiert habe. Und deshalb beobachte ich Menschen, vor allem Frauen. Und Sie sind mir aufgefallen. Schlank, gut gewachsen, ein lockerer beschwingter Gang und dazu die miese Miene. Tragen Sie die immer vor sich her oder nur heute?«
»Ich glaube, immer«, erwiderte Tilla, nun ohne Scheu, da das Rätsel gelöst war.
»Und warum?«
»Uns geht es nicht besonders gut.«
»Wer ist uns?«
»Mein … mein Mann. Und meine Tochter.«
»Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Sie haben einen Mann und eine Tochter. Wie alt ist die Tochter?«
»Neun.«
Was Tanja Ewers jetzt dachte, sprach sie nicht aus.
Sie dachte, einem neunjährigen kleinen Mädchen müsste man eigentlich manchmal ein fröhliches Gesicht zeigen.
Stattdessen fragte sie: »Haben Sie einen Beruf?«
Tilla schüttelte den Kopf.
»Arbeiten Sie gar nichts?«
Tilla schüttelte
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