Kuss des Feuers
anhörte, als würde sich ein Unwetter zusammenbrauen.
Kalter Schweiß bildete sich auf Mirandas Haut, als ihre Wut immer größer wurde. Der Raum heizte sich mehr und mehr auf, die Gaslampen über ihnen flackerten. Victoria beobachtete mit gerunzelter Stirn die Lampen. Miranda atmete konzentriert. Und dann noch einmal, während sie das vertraute Verlangen unterdrückte. Das Verlangen, ihrer Wut freien Lauf zu lassen, während sich gleichzeitig in ihrem Innern alles schmerzhaft verhärtete.
Beherrsch dich, Miranda. Werde nicht wieder zu diesem Monster
.
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie versuchen werden, ihn zurückzugewinnen?«, fragte sie.
Victoria verzog die Lippen zu einem Anflug eines entschuldigenden Lächelns. »Und wenn das meine Absicht wäre?«
Die Lampe über Victorias Kopf flackerte wild, als Miranda sprach. »Dann bekommen Sie es als Erstes mit mir zu tun.«
Mit erschreckender Schnelligkeit schoss Victorias Hand nach vorn und packte Mirandas Handgelenk. »Ich stelle fest, dass ich Sie mag, Miranda. Gegen meinen Willen. Deshalb gebe ich Ihnen einen kleinen Rat: Wenn Sie Ihren Ehemann behalten wollen, glauben Sie nichts von dem, was Sie hören. Alle lügen. Vor allem Ihr Ehemann. Wenn er meint, dass es Sie schützt, wird Archer nicht zögern, alle Ausflüchte zu Hilfe zu nehmen, damit Sie weiter im Dunkeln tappen. Lassen Sie das nicht zu, sonst laufen Sie Gefahr, ihn vollständig zu verlieren.«
17
Alle lügen
. Immer wieder gingen Miranda Victorias warnende Worte durch den Kopf. Was waren Archers Lügen? Warum hatte er das Gefühl, welche erzählen zu müssen?
Die zarten Klänge einer Fiedel übertönten hie und da Straßenlärm und raues Gelächter. Trotz der späten Stunde waren Gassenkinder unterwegs, die mit ihren kleinen Fingern leicht wie Spinnenfäden über die Taschen jener glitten, die nicht aufpassten. Mit ein bisschen Glück würden sie genug stehlen, um zu überleben. Manche Diebe waren nicht älter als drei Jahre – kleine Langfinger und zukünftige Ganoven.
Die Dunkelheit hüllte Miranda ein, nur vereinzelt leuchteten Laternen. Ihr Stiefel trat knirschend auf etwas, das verdächtig nach Knochen klang und sich auch so anfühlte. Miranda befand, dass die Dunkelheit ein Segen war. In mehrererlei Hinsicht. Mit dem weit heruntergezogenen Filzhut und dem hochgeschlagenen Kragen der lumpigen Jacke war von ihrem Gesicht nicht viel zu erkennen. Den Dreck auf ihrer Haut hatte sie sich hastig ins Gesicht geschmiert, als sie durch den Garten gekrochen war, nachdem Archer das Haus am Abend verlassen hatte.
Aus Erfahrung wusste sie, dass Archer stundenlang weg sein würde – und etwas nachging, das sie noch nicht einmal ansatzweise ergründen konnte, obwohl sie annahm, dass es wohl genauso verstohlen war wie ihr Tun heute Nacht. Der Mord an Cheltenham und der Angriff im Museum belasteten ihn sehr. Seitdem hatte er jede Nacht das Haus verlassen, wenn er annahm, dass sie längst im Bett lag. Sie wusste, dass er nach dem Mörder suchte. Und auch wenn er es zu verbergen trachtete, konnte sie die Wut und die ihn quälende Hilflosigkeit in seinen Augen lodern sehen. Dies wiederum ließ bei Miranda das heftige Verlangen entbrennen, ihn zu beschützen und wo immer so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen.
Kalte Luft, versetzt mit eisigen Rußpartikeln, füllte ihre Lunge. Sie widerstand dem Drang, den Kopf noch weiter einzuziehen. Wer durch diese Straßen ging, hatte ein Ziel vor Augen, sonst wurde ihm sofort nachgestellt. Der Gestank trieb ihr Tränen in die Augen. Zwiebeln, Fäkalien, verdorbenes Fleisch … Der Verwesungsgeruch war das Schlimmste, denn er drang, ob man nun wollte oder nicht, in Mund und Kehle und erinnerte einen daran, was einem selber bevorstand: Tod und Verfall. Sie presste die Lippen fest aufeinander und kämpfte sich weiter voran.
Der, den sie suchte, stand unter einer der wenigen funktionierenden Laternen. Fast einen Kopf größer als alle anderen war er so hoch aufgeschossen wie eine Gartenleiter und das struppige Haar wirkte im flackernden Lichtschein stumpf. Er war älter geworden; genau wie sie. Feine Linien lagen wie ein Fächer neben den fröhlichen braunen Augen. Aber das Grinsen. Das lückenhafte Grinsen war dasselbe geblieben … diese Mischung aus zu gleichen Teilen spöttischer Häme und Humor. Eine Gruppe von jüngeren Männern und Jungen stand um ihn herum, beobachtete all seine Bewegungen und passte ihr Auftreten dem seinen an. Nachdem er sich langsam
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