Kuss des Feuers
hochgearbeitet hatte, war er jetzt der Anführer dieses kleinen Trupps. Sein Bowlerhut aus grünem Samt und der senfgelbe, sackartige Gehrock waren etwas weniger schäbig als die Kleidung seiner Gefährten. Vielleicht würde er eines Tages der Anführer der ganzen Gegend sein.
Ihre Schritte wurden langsamer. Wie sollte sie es bewerkstelligen, mit ihm allein zu reden? Denn es würde nichts bringen, einfach zu ihm hinzugehen, während seine Bande um ihn herumhing. Sie lehnte sich an einen verwaisten Laternenpfahl und stellte sich darauf ein zu warten. Der Laternenanzünder hatte die Leuchten ausgelassen. Das hatte er mit den meisten Laternen in der Straße getan. Es wurde nicht für notwendig erachtet, in dieser Gegend für gute Lichtverhältnisse zu sorgen – und übrigens auch nicht für frisches Wasser.
Wut kochte plötzlich in ihr hoch, und ihr kam eine Idee. Vielleicht war sie die Einzige, die den durchdringend süßlichen Geruch von Petroleum wahrnahm, das aus den unbenutzten Lampen getropft war und sich in der schmalen, mit Unrat gefüllten Abflussrinne gesammelt hatte, die durch die West Street lief. Die Menge genügte, um zu brennen. Ein kleiner Funke würde reichen. Pochend vor Erregung zogen sich ihre Lenden zusammen, und die vertraute Kraft erwachte zum Leben. Sie schob die Hände tief in ihre Taschen, um ihr Zittern zu verbergen, und ihre Finger schlossen sich um die kühle Münze, die sie dort verbarg. Sie hielt sich wie an einer Rettungsleine daran fest. Wenn es nicht richtig gemacht wurde, würde die ganze West Street wie eine Laterne aufflammen. Im Grunde war die ganze nebelverseuchte Luft Londons eine Brandbombe, die nur darauf wartete loszugehen. Nichts zu Großes, versprach sie sich selber, während ihr kalter Schweiß auf die Stirn trat. Nur ein kleiner Funke, der genau in die Gosse ging.
Ein Leierkastenmann spazierte mit seinem Affen an ihr vorüber. Und dann handelte sie. Glücksgefühle durchströmten sie, und mit einem Zischen erwachte die Abflussrinne auf der gesamten Länge der West Street zum Leben. Alles keuchte erschrocken, als plötzlich ein gelber Flammenfluss durch die Menschenmenge strömte. Doch dann war hie und da schon ein überraschtes Lachen zu hören, und im allgemeinen Durcheinander hob Billy Finger den Kopf. Seine braunen Augen funkelten, ehe er sie entdeckte. Einen kurzen Moment lang zog er die Augenbrauen zusammen. Miranda tippte sich an die Hutkrempe und ihr Gruß wurde mit dem vertrauten lückenhaften Grinsen erwidert. Sie war jetzt, wie man so sagte, drin.
»Aber hallo, Schätzchen«, meinte er, als er näher kam. »Du weißt, wie man einen gekonnten Auftritt hinlegt.« Eine schier überwältigende Geruchswolke aus Dreck, Schweiß und Rum – der wahrscheinlich beim letzten Bruch mitgegangen war – folgte ihm. »Und wie geht’s meinem Lieblingsmädchen in dieser schönen Nacht?«
»Nenn mich nicht so«, zischte sie mit leiser Stimme.
Er zog die struppigen Augenbrauen hoch. »Wie denn, Lieblingsmädchen?«
»›Mädchen‹, ›Schätzchen‹.« Sie drückte die Schultern nach hinten, damit sie breiter wirkten. »Ich bin ein Mann, denk dran.«
Wieder bedachte er sie mit dem ihm eigenen Grinsen. »Richtig. Und noch dazu ein sehr überzeugender Kerl.« Er schnaubte und blies ihr seinen schlechten Atem ins Gesicht. »Allerdings würde ein alter, blinder Knacker, der zufällig auf dich stößt, keinen Spaziergang im Garten machen wollen.«
»Sei nicht widerlich.« Sie versank tiefer in ihrem Kragen, wo die Luft besser war. »Ich habe nicht vor, mein Gesicht zu zeigen …«
»He, Billy, wer ist der schicke Kerl da?«
Knurrend drehte Billy sich zu dem jüngeren Rüpel um, der zu ihnen getreten war. »Das ist kein Kerl! Das ist Pan, ein guter Kumpel und Freund von mir. Also pass lieber auf, was du sagst.«
Der kleine Ganove, der bestimmt nicht älter als sechzehn war, wich zurück. »Brauchst ja nicht gleich so wütend zu werden.«
Billy machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kinn. »He, zisch ab. Und behalt Meg im Auge. Die faule Schlampe benutzt ihre Ecke als Schlafplatz.«
Der Junge zottelte davon.
»Ach, dann hast du dich jetzt also aufs Fleischgewerbe verlegt, was?«, fragte Miranda. Die Vorstellung, dass Billy jetzt ein Lude war, stieß ihr bitter auf.
Billy lächelte schief. »Ein Mann muss doch für seinen Lebensunterhalt sorgen, oder nicht?« Er stocherte zwischen seinen Zähnen herum und spuckte aus. »Und du wirst langsam zu alt, um dich hier unter
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