Kuss des Tigers - Eine unsterbliche Liebe
hatte, lief er zuerst im Kreis herum und schritt dann unruhig auf und ab. Er blickte unverwandt ins Publikum, als suchte er nach etwas.
Schließlich verharrte er reglos wie eine Statue und starrte mich eindringlich an. Sein Tigerblick verwob sich mit meinem und ich konnte den Kopf nicht wegdrehen. Mehrmals hörte ich das Knallen der Peitsche, doch der Blick des Tigers blieb weiterhin auf mich gerichtet. Matt stupste mich mit dem Ellbogen an und ich brach den Augenkontakt ab.
»Das ist echt seltsam«, sagte Matt.
»Was läuft da schief?«, fragte ich. »Was ist los? Warum schaut er zu uns her?«
Er zuckte mit den Achseln. »Das ist noch nie passiert. Keine Ahnung.«
Endlich wandte Ren sich von uns ab und begann mit seinem Programm. Nachdem die Vorstellung beendet war und ich aufgeräumt hatte, besuchte ich den Tiger, der rastlos in seinem Käfig auf- und abschritt. Als er mich sah, ließ er sich beruhigt nieder und legte den Kopf auf die Pfoten. Ich ging zum Käfig.
»Hallo, Ren. Was ist heute mit dir los? Ich mache mir Sorgen um dich. Ich hoffe, du wirst nicht krank.«
Er blieb still liegen, ließ mich jedoch nicht aus den Augen und folgte jeder meiner Bewegungen. Behutsam näherte ich mit dem Käfig. Der Tiger zog mich magisch an und ich konnte dem starken, gefährlichen Drang nicht widerstehen. Es war ein regelrechter Sog. Vielleicht lag es daran, dass ich das Gefühl nicht loswurde, wir beide seien einsam, oder vielleicht war es, weil er ein so wunderschönes Tier war. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, ich wollte – ich musste – ihn berühren.
Das Risiko war mir bewusst, doch ich verspürte keine Angst. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass er mich nicht verletzen würde, deshalb überhörte ich die Alarmglocken, die in meinem Kopf schrillten. Ich machte noch einen Schritt auf den Käfig zu und stand einen Moment zitternd da. Ren verharrte regungslos, sah mich nur unverwandt mit seinen lebhaften blauen Augen an.
Langsam glitt meine Hand zwischen den Stäben des Käfigs hindurch und meine Fingerspitzen streckten sich nach Rens Pfote aus. Dann berührte ich zaghaft sein weiches weißes Fell. Ein tiefes Seufzen entrang sich seiner Kehle, doch davon abgesehen rührte er sich nicht. Ich wurde mutiger und legte die ganze Hand auf seine Pfote, streichelte sie und fuhr einen der Streifen mit meinem Finger nach. Wie in Zeitlupe sah ich, dass sich sein Kopf zu meiner Hand bewegte. Doch bevor ich mich aus meiner Schreckstarre lösen und die Hand aus dem Käfig reißen konnte, leckte er sie bereits ab. Es kitzelte.
Ich zog die Hand rasch heraus. »Ren! Du hast mir aber einen Schreck eingejagt! Ich dachte schon, du willst mir die Finger abbeißen!« Zögerlich hielt ich die Hand an den Käfig, und seine rosafarbene Zunge schoss zwischen den Stäben hindurch, um sie abzulecken. Ich ließ ihn gewähren, dann ging ich zum Waschbecken und wusch die Tigerspucke ab.
Ich kehrte zu meinem Lieblingsplatz, den Heuballen, zurück und sagte: »Danke, dass du mich nicht gefressen hast.«
Er schnurrte als Antwort leise.
»Was möchtest du heute vorgelesen bekommen? Wie wäre es mit dem Katzengedicht, das ich dir versprochen habe?«
Ich setzte mich, schlug den Gedichtband auf und suchte die richtige Seite. »Okay, dann mal los.«
ICH BIN DIE KATZE
von Leila Usher
In Ägypten betete man mich an.
Ich bin die KATZE .
Da ich mich nicht unterwerfe,
nennt man mich rätselhaft.
Wenn ich eine Maus fange,
nennt man mich grausam.
Sie jedoch halten Tiere
in Tiergärten und Zoos, um sie begaffen zu können,
sie glauben, die Tiere wären zu ihrem Vergnügen geschaffen,
um ihnen untertan zu sein.
Und während ich allein aus Notwendigkeit töte,
töten sie um des Vergnügens willen, als Beweis ihrer Macht und für Gold.
Warum sollte ich sie lieben?
Ich, die KATZE , deren Vorfahren
stolz den Dschungel durchstreiften,
kein Einziger je von einem Menschen gezähmt.
Ach, sie wissen nicht,
dass dieselbe unsterbliche Hand,
die ihnen Atem einhauchte, mir ebenfalls Atem einhauchte.
Doch ich allein bin frei.
Ich bin DIE KATZE .
Ich klappte mein Buch zu und blickte nachdenklich zu dem Tiger hin. Ich stellte ihn mir stolz und vornehm vor, wie er auf der Jagd durch den Dschungel streifte. Auf einmal tat er mir sehr, sehr leid. Es kann kein gutes Leben sein, in einem Zirkus aufzutreten, selbst mit einem begabten Dompteur. Ein Tiger ist kein Hund, den man als Haustier hält. Er sollte in freier Wildbahn leben.
Ich stand auf und
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