Kuss im Morgenrot: Roman
immer mietete. Es handelte sich um ein Georgianisches Stadthaus: hübsche rote Ziegel, weiße Fensterrahmen und Verzierungen, ein Vorbau mit weißem Giebeldach und vier schmalen Pilastersäulen.
Leo mochte Mayfair ungemein, nicht so sehr wegen seines mondänen Rufs, sondern weil es vor langer Zeit, genauer im frühen achtzehnten Jahrhundert, vom Großen Geschworenengericht von Westminster vielmehr als »anstößig und zügellos« erachtet worden war, verurteilt für seine Gepflogenheiten im Glücksspiel, unzüchtigen Bühnenstücke, Boxkämpfe, Tierhetzen und alle damit verbundenen Laster und Verbrechen. Während der nächsten hundert Jahre war es dann nach und nach aufgewertet worden, bis John Nash sein hart erkämpftes Ansehen schließlich durch den Umbau der Regent Street und des Regent’s Park besiegelte. In Leos Augen aber würde Mayfair immer die ehrwürdige alte Dame mit ihrer berüchtigten Vergangenheit bleiben.
Als Leo am Wohnsitz der Damen eintraf, wurde er in ein Empfangszimmer geführt, das auf einen zweistufigen Garten hinausging. Vanessa Darvin und Countess Ramsay begrüßten ihn herzlich. Als sich alle setzten, um Konversation zu machen, jene obligatorische oberflächliche Plauderei über die Gesundheit der Familie und seine eigene, das Wetter und andere harmlose, höfliche Themen, die einer näheren Bekanntschaft vorausgingen, stellte Leo fest, dass der Eindruck, den er auf dem Ball in Hampshire von den beiden Frauen gewonnen hatte, gleich geblieben war. Die Countess war eine geschwätzige alte Schachtel und Vanessa Darvin eine selbstbezogene Schönheit.
Eine Viertelstunde verging, dann eine halbe. Leo begann sich zu fragen, ob er jemals herausfinden würde, warum sie ihn überredet hatten, ihnen einen Besuch abzustatten.
»Du liebe Zeit!«, rief die Countess plötzlich. »Ich habe ganz vergessen, dass ich mich mit der Köchin über das Abendessen beraten wollte. Tut mir leid, aber ich muss unverzüglich gehen.« Sie stand auf, und Leo sprang wie automatisch auf die Füße.
»Vielleicht sollte ich jetzt auch besser gehen«, sagte er, dankbar für die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen.
»Bleiben Sie, Mylord«, bat Vanessa leise. Vanessa und die Countess tauschten einen vielsagenden Blick, bevor Letztere den Raum verließ.
Als Leo den offenkundigen Vorwand durchschaute, ließ er sich wieder in den Sessel zurücksinken. Mit hochgezogenen Brauen blickte er zu Vanessa. »Hinter der Aktion steckt also eine Absicht.«
»So ist es«, bestätigte Vanessa. Sie war wunderschön mit ihren glänzenden dunklen Locken, die sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt hatte, und den exotischen schwarzen Augen in ihrem blassen Porzellangesicht. »Ich möchte eine höchstpersönliche Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Ich hoffe, ich kann mich auf Ihre Diskretion verlassen.«
»Das können Sie.« Leo musterte sie mit einem Anflug von Interesse. Hinter ihrer provokativen Fassade steckte ein Hauch von Unsicherheit und Dringlichkeit.
»Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll«, sagte sie.
»Sagen Sie es unverblümt«, schlug Leo vor. »Ich bin nicht besonders gut darin, zwischen den Zeilen zu lesen.«
»Ich würde Ihnen gerne einen Vorschlag machen, Mylord, der unseren beiderseitigen Bedürfnissen gerecht wird.«
»Wie interessant! Ich war mir gar nicht bewusst, dass sich unsere Bedürfnisse überlappen.«
»Ihre sind ja offensichtlich zu heiraten und so bald wie möglich einen Sohn zu bekommen, bevor Sie sterben.«
Leo war ein wenig bestürzt. »Ich hatte eigentlich nicht vor, in der nahen Zukunft mein Dasein zu vollenden.«
»Was ist mit dem Ramsay-Fluch?«
»Ich glaube nicht daran.«
»Das hat mein Vater auch nicht«, erwiderte sie spitz.
»Ja, dann«, sagte Leo verärgert und amüsiert zugleich, »sollten wir angesichts meines nahenden Ablebens keine Sekunde verschwenden. Sagen Sie, was Sie von mir wollen, Miss Darvin.«
»Ich muss so schnell wie möglich einen Ehemann finden, sonst werde ich bald in einer höchst unangenehmen Situation sein.«
Leo betrachtete sie aufmerksam, erwiderte jedoch nichts.
»Obwohl wir uns noch nicht besonders gut kennen«, fuhr sie fort, »weiß ich eine ganze Menge über Sie. Ihre Heldentaten der Vergangenheit sind kein Geheimnis. Und all die Eigenschaften, die Sie für jede andere Frau zu einem wenig geeigneten Ehemann machen, sind mir gerade recht. Wir sind uns nämlich sehr ähnlich, wissen Sie. Allen Berichten nach sind Sie zynisch, unmoralisch und
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