Kuss im Morgenrot: Roman
ihm zu helfen. » Non , nicht so, mon fils , du drückst die Erde an den Wurzeln zu fest. Sie benötigen mehr Luft.« Er nahm Leo den Topf ab und fuhr mit seinem Vortrag fort. »Wenn du ein guter Architekt sein willst, musst du deine Umwelt akzeptieren, ganz gleich, unter welchen Bedingungen. Dann erst kannst du mit Bedacht deine Ideale nehmen und sie in das Werk einbauen.«
»Geht es auch ohne Ideale?«, hatte Leo nur halb im Scherz gefragt. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich ihnen nicht gerecht werden kann.«
Professor Joseph hatte ihn angelächelt. »Genauso wenig kannst du nach den Sternen greifen. Und doch brauchst du ihr Licht. Du brauchst sie zum Navigieren, n’est-ce pas ?«
Deine Ideale nehmen und sie in das Werk einbauen. Nur so wird es ein gutes Haus, ein gutes Gebäude werden.
Oder ein gutes Leben.
Und schließlich hatte Leo den Grundstein gefunden, das wesentliche Stück, auf dem er den Rest aufbauen konnte.
Einen einigermaßen sturköpfigen Grundstein.
Seine Lippen kräuselten sich, als er überlegte, was er heute mit Catherine anstellen sollte, wie er sie umwerben oder verärgern sollte, zumal sie beides gleichermaßen zu genießen schien. Vielleicht würde er einen kleinen Streit beginnen und sie dann in die Kapitulation küssen. Vielleicht würde er ihr noch einen weiteren Antrag machen, sofern er sie in einem schwachen Moment erwischte.
Als er die Rutledge-Gemächer erreichte, klopfte er nachlässig an die Tür und trat ein. Da kam ihm Poppy bereits entgegengerannt.
»Hast du …«, begann sie, brach aber ab, als sie Leo erblickte. »Leo. Ich habe mich schon gefragt, wann du wiederkommst. Ich wusste nicht, wo du hingegangen bist, sonst hätte ich nach dir schicken lassen …«
»Was ist los, Schwesterherz?«, fragte er vorsichtig, denn er begriff sofort, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Poppy sah tief unglücklich aus, die Augen weit aufgerissen in ihrem bleichen Gesicht. »Catherine ist heute Morgen nicht zum Frühstück erschienen. Ich nahm an, sie wolle sich ausschlafen. Manchmal sind ihre Albträume …«
»Ja, ich weiß.« Leo ergriff ihre kalten Hände und sah sie wachsam an. »Raus mit der Sprache, Poppy.«
»Vor ungefähr einer Stunde habe ich ein Hausmädchen auf Catherines Zimmer geschickt, um zu hören, ob sie etwas brauchte. Sie war nicht da, und ihre Brille lag auf dem Tisch neben dem Bett.« Mit zittriger Hand reichte sie ihm die neue silberne Brille. »Und … auf dem Bett war Blut.«
Es kostete Leo ein paar Sekunden, bis er den Anfall von Panik, der ihn überkam, unter Kontrolle hatte. Es fühlte sich an wie ein Stechen, das vom Kopf bis in die Zehen fuhr, und ein donnernder Energiestoß schoss durch seinen Körper. Ein schwindelerregender Drang zu töten.
»Das Hotel wird gerade durchsucht«, drang Poppys Stimme durch das Dröhnen in seinen Ohren, »und Harry und Mr. Valentine sprechen mit den Etagenbutlern.«
»Latimer hat sie«, sagte Leo mit belegter Stimme. »Er hat sie abholen lassen. Ich werde dem schmutzigen Hurensohn die Eingeweide herausreißen und sie mit ihm aufhängen …«
»Leo«, flüsterte Poppy und fuchtelte mit der Hand in Richtung seines Mundes. Sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst. »Bitte.«
Erleichterung glättete Poppys Stirn ein wenig, als ihr Ehemann zur Tür hereinkam. »Harry, gibt es irgendeinen Hinweis?«
Harrys Gesicht war grimmig und hart. »Einer der Butler sagte, er habe letzte Nacht einen Mann in Hoteluniform gesehen – er nahm an, es handele sich um einen neuen Angestellten –, der einen Wäschesack über die Hintertreppe nach unten schleppte. Ihm fiel es lediglich auf, weil die Wäsche normalerweise von den Hausmädchen gemacht wird und niemals um diese Nachtzeit.« Er legte eine Hand beschwichtigend auf Leos Schulter, aber Leo schüttelte sie ab. »Ganz ruhig, Ramsay. Ich weiß, was du vermutest, und wahrscheinlich hast du sogar recht. Aber du kannst trotzdem nicht einfach wie ein Verrückter losstürmen. Wir müssen …«
»Dann versuch doch, mich aufzuhalten«, erwiderte Leo mit kehliger Stimme. In seinem Innern hatte sich etwas entfesselt, was nicht mehr aufzuhalten war. Bevor Harry überhaupt Luft holen konnte, war er schon zur Tür hinaus.
»Herrgott!«, murmelte Harry und fuhr sich mit den Händen durch das schwarze Haar. Er warf Poppy einen verstörten Blick zu. »Geh und such Valentine«, bat er. »Er spricht noch mit den Etagenbutlern. Sag ihm, er soll zu Special Constable Hembrey gehen,
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