Kuss im Morgenrot: Roman
brach, dass es wie die Teile eines unfertigen Puzzles verstreut lag. Ihr Herz ging langsamer, pumpte vergiftetes Blut durch ihre entkräfteten Glieder, und in ihrem Kopf machte sich eine ballonartige, schwere Empfindung breit, als wäre ihr Gehirn plötzlich zu groß für ihren Schädel.
William näherte sich ihr mit einem Wäschesack des Hotels. Er begann ihr den Sack überzustülpen, mit den Füßen zuerst. Dabei sah er ihr nicht ins Gesicht, sondern konzentrierte sich ganz auf seine Aufgabe. Sie sah ihm unbeteiligt zu und merkte, dass er gewissenhaft darauf achtete, dass der Saum ihres Nachthemds ihre Knöchel bedeckte. Wie aus weiter Ferne wunderte sich ein Teil ihres Gehirns über die kleine freundliche Geste.
Die Bettwäsche raschelte zu ihren Füßen, und Dodger flitzte mit wütendem Geschnatter hervor. Flink wie ein Wiesel griff er William an und biss sich in seiner Hand fest. Dieses Verhalten hatte Catherine bei dem Tierchen noch nie gesehen. William grunzte überrascht und schleuderte das Frettchen mit einem leisen Fluchen von sich. Das Tier flog in hohem Bogen durch den Raum, prallte mit voller Wucht gegen die Wand und fiel schlaff zu Boden.
Catherine stöhnte hinter dem Knebel auf, und Tränen brannten ihr in die Augen.
Schwer atmend untersuchte William die blutende Hand, fand am Waschtisch ein Tuch, das er um die Wunde wickelte, und kehrte zu Catherine zurück. Der Wäschesack wurde höher und höher gezogen, bis schließlich ihr Kopf darin verschwand.
Sie begriff, dass Althea sie nicht ernsthaft sehen wollte. Althea wollte sie zerstören. Vielleicht wusste William das nicht. Oder vielleicht dachte er, es sei höflicher zu lügen. Es tat auch nichts zur Sache. Sie fühlte überhaupt nichts, keine Furcht, keinen Schmerz, wenngleich ihr die Tränen unaufhaltsam aus den Augenwinkeln quollen. Was für ein schreckliches Schicksal, die Welt ohne Gefühle zu verlassen. Sie war nichts weiter als ein Gewirr aus Gliedmaßen in einem Sack, eine kopflose Puppe, alle Erinnerungen verblassten, jegliche Empfindung verschwand.
Ein paar Gedanken stachen durch die Decke des Nichts, die sich über sie gebreitet hatte, funkelnde Nadelstiche in der Dunkelheit.
Leo würde nie erfahren, dass sie ihn geliebt hatte.
Sie dachte an seine Augen, an all ihre verschiedenen Blautöne. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein Sternbild des Hochsommers auf, Sterne in der Form eines Löwen. Der hellste Stern markiert sein Herz.
Er würde trauern. Wenn sie ihm das nur ersparen könnte!
Oh, was sie alles hätten haben können! Ein gemeinsames Leben. Wie einfach sich das anhörte! Dieses schöne Gesicht mit fortschreitendem Alter verwittern zu sehen. Jetzt musste sie zugeben, dass sie in ihrem Leben nie glücklicher gewesen war als in den gemeinsamen Momenten mit Leo.
Ihr Herz schlug matt unter den Rippen. Es war schwer und schmerzte vor zurückgehaltenen Gefühlen, ja, es war ein harter Knoten inmitten der Taubheit.
Ich wollte dich nicht brauchen, Leo. Ich kämpfte so hart, um am Rande meines eigenen Lebens zu stehen … wo ich eigentlich den Mut hätte haben sollen, mich mitten in deins zu begeben.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Am späten Vormittag kehrte Leo von einem Besuch bei seinem alten Mentor Rowland Temple zurück. Der Architekt, mittlerweile Professor an der Universität, war erst kürzlich für seine Leistungen in der Architekturwissenschaft mit der Royal Gold Medal ausgezeichnet worden. Leo war amüsiert, aber wohl kaum überrascht gewesen festzustellen, dass Temple so herrisch und aufbrausend war wie eh und je. Der alte Mann betrachtete die Aristokratie als Geldquelle, die ihm dazu diente, finanziell über die Runden zu kommen, aber er verachtete ihr traditionelles und fantasieloses Stilgefühl.
»Du bist keiner von diesen parasitären Schwachköpfen«, hatte Temple mit Nachdruck bemerkt, und Leo hatte es als Kompliment aufgefasst. Und später dann: »Mein Einfluss auf dich kann nicht ausgemerzt werden, was?« Und natürlich hatte Leo ihm versichert, dass er recht hatte und alles, was er von ihm gelernt hatte, im Gedächtnis behielt und schätzte. Er hatte es nicht gewagt, den viel größeren Einfluss des betagten Professors in der Provence zu erwähnen.
»Architektur ist ein Mittel, sich mit den Schwierigkeiten des Lebens abzufinden«, hatte Joseph Leo einmal in seinem Atelier erzählt. Der alte Professor war gerade dabei gewesen, an einem langen Holztisch ein paar Kräuterpflanzen umzutopfen, und Leo hatte versucht,
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