Kuss im Morgenrot: Roman
…« Leo nahm ihr behutsam die alte Brille von der Nase, eine Geste, die er auszukosten schien.
Dann setzte sie sich die neue Brille auf. Sie fühlte sich auf dem Nasenrücken leicht und zugleich stabil an. Sie blickte durch den Raum und war begeistert, wie wunderbar klar und fokussiert alles war. In ihrer Begeisterung sprang sie auf und eilte zu dem Spiegel, der über dem Tischchen im Eingangsbereich hing. Sie betrachtete ihr eigenes strahlendes Spiegelbild.
»Wie schön du bist!« Leos große elegante Gestalt tauchte hinter ihr auf. »Ich mag Brillen an einer Frau.«
Ihre Blicke trafen sich in dem versilberten Spiegel. »Wirklich? Was für eine seltsame Vorliebe.«
»Überhaupt nicht.« Er legte ihr die Hände auf die Schultern und fuhr vorsichtig zu ihrer Kehle und wieder zurück. »Sie betont deine schönen Augen. Und lässt dich aussehen, als wärst du zu Geheimnissen und Überraschungen fähig – was du ja, wie wir beide wissen, auch bist.« Er dämpfte die Stimme. »Aber am liebsten mag ich es, wenn ich sie dir abnehmen darf – um dich für einen Sturz aufs Bett bereitzumachen.«
Sie erschauderte angesichts seiner Unverblümtheit und schloss halb die Augen, als er sie wieder zu sich heranzog. Mit den Lippen strich er über die Seite ihres Halses.
»Gefällt sie dir?«, murmelte Leo und küsste ihre zarte Haut.
»Ja.« Ihr Kopf neigte sich zur Seite, als seine Zunge geschickt ihre Kehle entlangfuhr. »Ich … ich weiß nicht, warum du dir so viel Umstände gemacht hast. Das war sehr freundlich von dir.«
Leo hob den Kopf und begegnete ihrem entrückten Blick im Spiegel. Mit den Fingern strich er ihr über den Hals, als wollte er das Gefühl seines Mundes in ihre Haut einreiben. »Es war nicht freundlich«, sagte er, und ein Lächeln zuckte um seine Lippen. »Ich wollte einfach, dass du ganz klar siehst.«
Das tu ich allmählich , war sie versucht ihm zu sagen, aber Poppy kehrte in die Gemächer zurück, bevor sie antworten konnte.
In jener Nacht hatte Catherine einen sehr schlechten Schlaf. Sie stolperte in die Albtraumwelt, die genauso real, wenn nicht realer schien als die unendlich viel freundlichere, die sie in ihren wachen Stunden erlebte.
Teils war es Traum, teils die Erinnerung daran, wie sie durch das Haus ihrer Großmutter gelaufen war, bis sie die alte Frau am Schreibtisch über ihren Geschäftsbüchern vorgefunden hatte.
Catherine warf sich ihrer Großmutter rücksichtslos vor die Füße und vergrub ihr Gesicht in den wallenden schwarzen Röcken. Sie spürte, wie die alte Frau ihre knochendürren Finger unter ihr nasses Kinn schob und es anhob.
Das Gesicht ihrer Großmutter war dick mit einem Puder bedeckt, dessen aschgraue Blässe in starkem Kontrast zu ihren dunkel gefärbten Brauen und Haaren stand. Im Gegensatz zu Althea benutzte sie kein Lippenrouge nur eine farblose Salbe
»Althea hat mit dir gesprochen«, sagte die Großmutter, und ihre Stimme hörte sich an wie das Rascheln vertrockneter Blätter.
Catherine brachte nur mit Mühe und unter Schluchzen ein paar Worte heraus. »Ja … und ich verst … verstehe nicht …«
Die Großmutter antwortete mit einem krächzenden Singsang, wobei sie Catherines Kopf in ihren Schoß hinunterdrückte. Sie streichelte ihr Haar und kämmte die offenen Locken mit den Fingern. »Hat Althea es dir nicht richtig erklärt? Komm schon, du bist zwar nicht das klügste Mädchen, aber du bist auch nicht dumm. Was verstehst du denn nicht? Und hör endlich auf zu weinen, du weißt, wie sehr ich die Heulerei verabscheue.«
Catherine presste die Augen so fest sie konnte zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Ihr schnürte es vor Elend die Kehle zu. »Ich will etwas anderes, irgendetwas anderes. Ich will eine Alternative.«
»Du willst nicht wie Althea sein?« Sie stellte die Frage mit nervtötender Sanftheit.
» Nein .«
»Und du willst nicht wie ich sein?«
Catherine zögerte und schüttelte kaum merklich den Kopf, denn sie hatte Angst davor, noch einmal Nein zu sagen. Die Erfahrung hatte gezeigt, dass das Wort bei ihrer Großmutter sparsam verwendet werden sollte. Es war ein zuverlässiges Reizmittel, ganz egal, in welchem Zusammenhang.
»Aber das bist du schon«, erklärte ihr die Großmutter. »Du bist eine Frau. Alle Frauen führen ein Hurendasein, Kind.«
Catherine erstarrte. Sie hatte Angst, sich zu bewegen. Die Finger ihrer Großmutter verwandelten sich plötzlich in Klauen und das Streicheln in eine Art langsames, rhythmisches Kratzen
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