Kuss im Morgenrot: Roman
nicht von der Stelle und legte ihm eine behandschuhte Hand auf die Brust. »Ich fürchte, ich kann dich nicht hereinlassen, Mylord. Es wäre nicht schicklich. Und ich hoffe, dass du für diesen Ausflug eine offene Kutsche, keine geschlossene, bestellt hast?«
»Wir können auch eine Kutsche nehmen, wenn es dir lieber ist. Doch unser Ausflugsziel ist nicht weit, und der Weg durch den St. James’ Park sehr angenehm. Würdest du gerne zu Fuß gehen?«
Sie nickte unverzüglich.
Als sie das Hotel verließen, fand sich Leo auf der zur Straße gewandten Seite des Fußwegs ein. Die Hand in Leos Armbeuge gesteckt, erzählte Catherine, was sie und Beatrix über den Park gelesen hatten. King James hatte sich im Park eine Vielzahl exotischer Tiere gehalten, unter anderem Kamele, Krokodile und einen Elefanten. Außerdem hatte er entlang der Promenade mehrere Vogelhäuser errichten lassen, weshalb die Straße später in Birdcage Walk umbenannt wurde. Das veranlasste Leo dazu, ihr von dem Architekten John Nash zu erzählen, der den Park grundlegend umgestaltet hatte, wobei die Zentralachse des Areals, The Mall , zur königlichen Prachtstraße ausgebaut worden war.
»Nash war, was man damals einen Stutzer nannte«, sagte Leo. »Arrogant und selbstgefällig, beides Eigenschaften, die für einen Architekten seines Kalibers überlebensnotwendig sind.«
»Ach ja?« Catherine schien das zu amüsieren. »Warum denn das?«
»Die überwältigenden Geldsummen, die für ein bedeutendes Bauwerk ausgegeben werden, und der Aspekt der Öffentlichkeit … es ist geradezu unverfroren zu glauben, dass der Entwurf, den man im Kopf hat, es verdient, in größerem Maßstab gebaut zu werden. Ein Gemälde hängt in einem Museum, wo die Leute hingehen und es sich bewusst ansehen müssen, oder sie können es auch ignorieren, wenn es ihnen lieber ist. Ein Gebäude hingegen kann nicht so einfach ignoriert werden, und Gott steh uns bei, wenn es das Auge beleidigt.«
Sie warf ihm einen listigen Blick zu und betrachtete ihn aufmerksam. »Hast du jemals davon geträumt, ein wichtiges öffentliches Gebäude oder ein historisch bedeutendes Bauwerk zu entwerfen, wie es Mr. Nash getan hat?«
»Nein, ich habe nicht den Ehrgeiz, ein großer Architekt zu werden. Höchstens ein brauchbarer. Ich mag es, kleinere Projekte zu entwerfen, wie etwa die Pachthöfe auf meinem Anwesen. Meiner Meinung nach sind sie nicht weniger wichtig als ein Palast.« Er zügelte seinen Schritt, um sich ihrem anzupassen, und führte sie behutsam über eine holprige Stelle im Pflaster. »Als ich zum zweiten Mal in Frankreich war, begegnete ich auf einer Wanderung durch die Provence einem meiner Professoren von der Académie des Beaux-Arts. Ein liebenswürdiger alter Mann.«
»Welch ein Zufall!«
»Schicksal.«
»Glaubst du an das Schicksal?«
Leo schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Wenn man mit Rohan und Merripen zusammenlebt, ist es unmöglich, nicht an das Schicksal zu glauben, oder?«
Catherine lächelte zurück und schüttelte den Kopf. »Ich bin eine ewige Zweiflerin. Ich glaube, unser Schicksal besteht darin, wer wir sind und was wir aus unseren Möglichkeiten machen. Aber fahr bitte fort … erzähl mir von dem Professor.«
»Nach dieser zufälligen Begegnung besuchte ich Professor Joseph häufig, um in seinem Atelier zu zeichnen, Entwürfe zu erstellen und von ihm zu lernen.« Er machte eine Pause und lächelte, in Erinnerungen versunken. »Oft saßen wir bei einem Glas Chartreuse zusammen und unterhielten uns. Ich konnte das Zeug nicht ausstehen.«
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«, erkundigte sie sich mit sanfter Stimme.
»Meist über Architektur. Professor Joseph hatte eine unverstellte Sicht auf die Dinge … Er war der Ansicht, dass ein kleines perfekt entworfenes Cottage den gleichen Wert besitzt wie ein herrschaftliches öffentliches Gebäude. Und er erzählte mir Dinge, die er an der Académie nie erwähnt hat: dass eine Verbindung zwischen dem Physischen und dem Spirituellen bestehe … Dass ein perfektes von Menschenhand geschaffenes Werk, wie etwa ein Gemälde, eine Skulptur oder ein Gebäude, dir zu einem Moment der Erhabenheit verhelfen kann. Der Klarheit. Wie ein Schlüssel, der es dir erlaubt, das Tor zum Himmel aufzuschließen, um einen flüchtigen Blick auf das Jenseits zu erhaschen.«
Leo hielt inne, als er ihr gequältes Gesicht sah. »Ich habe dich gelangweilt. Verzeih mir.«
»Nein, ganz und gar nicht.« Sie gingen eine Weile schweigend
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