Kuss mich kuss mich nicht
gepackt und sie unsanft geschüttelt. »Wir gehen nicht in dieses Haus. Hast du mich verstanden? Er hätte dich heute Abend sehen können, aber er hat seine Chance nicht genutzt!«
Callie war in Tränen ausgebrochen.
Sofort war ihre Mutter verstummt und hatte sie mit einem unglücklichen Seufzer in den Arm genommen. »Tut mir leid, Schätzchen. Es tut mir furchtbar leid.«
Abrupt kehrte Callie in die Gegenwart zurück. Ihr Vater hatte sie an keinem ihrer Geburtstage besucht. Er hätte siebenundzwanzig Mal die Gelegenheit dazu gehabt, sie aber kein einziges Mal genutzt.
Sie atmete tief durch und strich sich die Haare aus der Stirn.
Gott, sie hasste die Erinnerung an die Vergangenheit. Sie stellte immer schlimme Dinge mit ihr an, gab ihr das Gefühl, als hätte ihr jemand einen Lappen in den Hals gestopft und als bekäme sie deshalb nur noch mit größter Mühe Luft.
Sie sprang von der Bank, zog sich an und ging in ihr Atelier. Als sie durch die Garage ging, beschloss sie, ein bisschen Musik zu hören und sich die alten Dokumente anzusehen. Sie ging die CD -Sammlung neben der Stereoanlage durch, beschloss, dass Norah Jones nur dann die Richtige wäre, wenn sie vollends in Selbstmitleid versinken wollte, schob stattdessen eine CD mit schwungvollem Big-Band-Swing in das Gerät und nahm vor der Kiste, die sie bereits geöffnet hatte, auf dem Sofa Platz.
Sie hatte angefangen, die Papiere chronologisch zu sortieren, und war wirklich fasziniert von dem bunten Sammelsurium aus Dokumenten, auf das sie gestoßen war. Es gab handgeschriebene Quittungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, einen Kaufvertrag aus dem Jahr 1871 für das Grundstück, auf dem heute Buona Fortuna stand, ein auf den Namen Phillip Constantine Walker ausgestelltes Harvard-Diplom aus dem Jahr 1811 und ein Stück Papier mit einer kaum leserlichen Unterschrift.
Sie griff blind in die Kiste, zog einen Stapel Papiere daraus hervor und legte sie in ihren Schoß. Das oberste Blatt war der Anfang der Bestandsaufnahme eines Haushalts, und lächelnd ging sie die Liste der Betttücher, Tischdecken und Möbelstücke durch. Der angegebene Wert der jeweiligen Dinge war einfach unglaublich – zwanzig Dollar für einen Mahagoni-Schreibtisch und zehn Cent für eine Wolldecke. Angesichts der Schrift und des verwendeten Papiers stammte die Liste wahrscheinlich aus dem späten neunzehnten Jahrhundert und stellte eine Aufzählung des Inventars von Buona Fortuna dar. Hoffentlich fände sie später noch den Rest des Dokuments.
Es folgten fünf weitere Seiten dieser Liste, darunter eine mit lauter Küchenutensilien, das nächste Blatt jedoch war offenbar ein Brief. Er war älter als die Liste, und die Schrift war schwer zu lesen, weil die Buchstaben verschnörkelt waren und die Tinte stark verblichen war. Callie kniff die Augen zu und starrte auf das Blatt.
Während ich vergeblich darauf hoffte, statt der dunklen Schatten dein liebreizendes Gesicht vor meinem Fenster zu erblicken, sann ich über die Liebe nach und verspürte große Angst vor einem furchtbaren Verlust. Zur Erlangung meiner Unabhängigkeit ziehe ich jetzt in den Krieg, wobei ich dieses Opfer ohne dich nicht bringen kann. Ich habe deiner vergeblich geharrt, und jetzt muss ich mit meinem Trupp gen Norden ziehen, nach Concord. Sorge dich nicht. Unser Geheimnis ist sicher. Dein General wird nie etwas erfahren. Zumindest nicht von mir.
N.W.
Callie las den Brief ein zweites Mal und blickte überrascht auf das Porträt.
Konnte das Schreiben von Nathaniel dem Ersten sein? Hatte er es auf dem Weg in die Schlacht von Concord verfasst?
Oder dachte sie wieder mal an Zebras, nur weil sie auf Hufspuren gestoßen war?
Sie legte das Blatt neben sich, ging eilig die restlichen Papiere, die auf ihren Beinen lagen, durch, legte sie unsortiert zur Seite und zog einen Stapel Dokumente nach dem anderen aus der Kiste, ohne dass sie dabei auf die erste Seite des Schreibens stieß.
»Verdammt.«
Wieder dachte sie über den Inhalt des Fragmentes nach. Ihre Kenntnisse in amerikanischer Geschichte waren nicht besonders ausgeprägt. Natürlich wusste sie, wer Nathaniel Walker gewesen war, und erinnerte sich auch noch ansatzweise an die Schlacht von Concord. Doch wer war der General, mit dem er in den Kampf gezogen war?
Grace, dachte sie. Grace wüsste es bestimmt.
Eilig stand sie auf und ging zurück ins Haus, um ihr Adressbuch aus ihrem Schlafzimmer zu holen, doch als sie in die Küche kam, stieß sie auf eine unglückliche
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