Kuss mich kuss mich nicht
sie, dass sie einfach die Zeit totschlug, bis Jack wieder nach Hause kam. Und genau, wie es einen Unterschied zwischen bewusstem Alleinsein und Fallengelassen-Werden gab, gab es auch einen Riesenunterschied zwischen dem Bewusstsein, dass es eine andere Frau in seinem Leben gab, und dem sicheren Wissen, dass er tatsächlich mit ihr zusammen war.
Callie dachte an all die Male, an denen ihre Mutter einen Besuch erwartet hatte, der am Ende nicht erschienen war. An all die Abende, an denen sie neben dem Telefon gesessen hatte, ohne dass ein Anruf gekommen war. An all die großen und kleinen Formen des Verraten-Werdens, die damit einhergegangen waren, dass sie immer nur die Nummer zwei gewesen war. Ihre Mutter hatte ihr Leben nur halb gelebt, denn sie hatte sich an einen Mann geklammert, der nie wirklich ihr Mann gewesen war. Nachdem sie jahrelang hatte mit ansehen müssen, wie sich eine solche Beziehung auf einen Menschen auswirkte, war sie sicher davon ausgegangen, ihre Lektion gelernt zu haben und vor Männern, die gebunden waren, auf der Hut zu sein.
Sie machte die Augen zu, drückte ihre Wange an das Fensterglas und dachte an eine Szene aus ihrer Kindheit zurück.
Es war ihr Geburtstag gewesen. Sie war neun geworden, und ihre Mutter hatte einen Vanillekuchen mit Schokoladenglasur gebacken und drei Teller auf den kleinen Küchentisch gestellt. Callie hatte gewusst, was das bedeutete, und ihre Aufregung nur mühsam unter Kontrolle halten können.
Er würde kommen. Dieses eine Mal würde ihr Vater wirklich kommen.
In einer Art von Rollentausch hatte ihre Mutter ihr geholfen, ein hübsches Kleid herauszusuchen, hatte ihr die Haare aufgedreht und zu zwei Zöpfen aufgesteckt. Ihre Mutter war den ganzen Tag gut gelaunt gewesen, und Callie hatte sich bemüht, es zu genießen, denn sie hatte gewusst, die gute Stimmung hielte garantiert nicht endlos an.
Das tat sie nämlich nie.
Sie hatten im Wohnzimmer gesessen, und ihre Mutter hatte ein ums andere Mal dieselbe Zeitschrift durchgeblättert und Callie wegen ihres guten Kleids gezwungen, mit ihren Stofftieren auf dem Stuhl statt auf dem Fußboden zu spielen. Dann hatte das Telefon geklingelt, und sie hatte den Atem angehalten, als ihre Mutter an den Apparat gegangen war. Ihre Stimme hatte einen angespannten Klang gehabt, und sie hatte Callie mit einem erstarrten Lächeln angesehen, das ihr verraten hatte, dass sich ihre Pläne geändert hatten und dass ihre Mutter sich bemühte, nett zu ihr zu sein und den Anrufer nicht vor ihr anzuschreien.
Dann hatte sich ihre Mutter mit dem Telefon ins Schlafzimmer zurückgezogen, eilig die Tür hinter sich zugemacht, und während ihre gedämpfte, wütende Stimme durch das Holz gedrungen war, war Callie in die Küche gegangen und hatte den dritten Teller wieder weggeräumt. Auch die sorgsam gefaltete Serviette, das Messer aus rostfreiem Stahl, die nicht dazu passende Gabel und den Löffel hatte sie wieder weggelegt. Da sie noch zu klein gewesen war, um den Teller in den Schrank zurückzustellen, hatte sie ihn kurzerhand unter der Spüle versteckt.
Nach einer Weile war ihre Mutter mit geröteten Augen und verquollenem Gesicht wieder aus dem Schlafzimmer gekommen, hatte den Kuchen auf den Tisch gestellt, die Kerzen angezündet, und sie hatte sie ausgeblasen und ihre Geschenke ausgepackt, ohne dass es ein wirkliches Fest für sie gewesen war.
Dann war sie früh ins Bett gegangen und Stunden später wieder wach geworden, als ihre Zimmertür aufgegangen war. Das Licht aus dem Flur war auf ihre Bettdecke gefallen und hatte die dunkle Silhouette ihrer Mutter eingerahmt. Das Erste, was Callie an ihr aufgefallen war, war das nachmittags zu einem ordentlichen Knoten aufgesteckte, jetzt aber unordentliche Haar. Es hatte wie ein zerzauster Heiligenschein um ihren Kopf gelegen und wie eine zerrupfte Krone ausgesehen.
»Steh auf, Callie«, hatte ihre Mutter sie mit bebender Stimme gedrängt.
»Was ist los?«
»Wir müssen noch mal weg.« Ihre Mutter war vor ihren Schrank getreten, hatte wahllos Pullover und Hosen daraus hervorgezerrt und auf den Fußboden geworfen. »Los, beeil dich. Zieh dir etwas an.«
Callie hatte gewusst, dass es nicht ratsam wäre, weitere Fragen zu stellen. Wenn ihre Mutter in dieser Stimmung gewesen war, hatte man am besten einfach nur gehorcht. Und in jener Nacht, als sie zornentbrannt an ihrem Bett gestanden hatte, war es schlimmer gewesen als jemals zuvor.
Draußen auf der Straße, im kalten Januarwind, hatte ihre
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