Kussen hat noch nie geschadet
leidtat, und vergessen würde sie das alles nie. Das war unmöglich. Zu viel verlangt. Es war eher so, dass sie die Sache einfach abgehakt hatte und es ihr nicht mehr so wichtig war.
Während sie mit Vince die Einfahrt hinauflief, zwackte sie die Feindseligkeit zwischen Sam und ihrem Bruder im Nacken, und ihr Pferdeschwanz spannte schmerzhaft. »Benimm dich«, verwarnte sie ihn leise. Sie blieb vor Sam stehen und sah ihm ins Gesicht. Das Licht der Außenleuchten fiel über seine Stirn, die leicht schiefe Nase und bis zur Hälfte über seine Lippen. »Ich wusste nicht, dass du in Seattle bist.«
»Bin ich aber.«
Offensichtlich. »Ich wusste nicht, dass du vorbeikommst.«
»Ich auch erst seit einer halben Stunde.« Er hob ruckartig das Kinn. »Vince.«
»Sam.«
»Ich muss dich kurz sprechen«, verkündete Sam und versuchte dabei, Vince mit Blicken einzuschüchtern.
»Mich?«
»Nein. Deinen Bruder.«
Das hatte sie befürchtet. Sie packte Vince am Arm. »Schlag ihn nicht.«
Vince löste ihre Finger einzeln von seinem Jackenärmel. »Ich werde nicht als Erster zuschlagen.«
Sam lachte in sich hinein. »Die Gelegenheit, als Zweiter zuzuschlagen, würdest du nicht mehr kriegen, Froschmann.« Damit lief er an ihnen vorbei zum Ende der Einfahrt und blieb im tiefschwarzen Schatten einer alten Eiche stehen.
Vince lachte auch, doch es war nicht lustig. Vince war zwar aufs Töten trainiert worden, aber Autumn hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Sam Gegner k.o. geschlagen hatte. Gegner, die bulliger waren als Vince. »Versprochen?«
Sein »Nein« verlor sich hinter ihm, während er widerwillig zum Ende der Einfahrt trottete.
»Was ist ein Froschmann?«
Sie senkte den Blick auf Conners glänzend blondes Haar. Vielleicht sollte sie ihn lieber ins Haus bringen, aber sie glaubte nicht, dass einer von den zweien vor Conner die Fäuste fliegen ließe. Auch wenn sie einander hassten, ihre Liebe zu Conner war stärker. Hoffte sie zumindest. »Ich glaube, das ist ein Navy SEAL.«
»Aha. Wird Dad Onkel Vince hauen?«
»Natürlich nicht.« Wenigstens hoffte sie das. »Sie haben nur Spaß gemacht.«
»Worüber reden die?«
Sie lauschte angestrengt und beugte sich sogar vor, hörte jedoch nur ein leises Brummeln. »Männerkram.«
»Was ist ›Männerkram‹?«
Als ob sie das wüsste. »Autos.«
»Aber Onkel Vince hat gar kein Auto. Nur ein Motorrad und einen Truck. Aber sein Truck ist nicht so groß wie Dads.«
Nach dem wenigen, das sie erkennen konnte, schien Sam die Hände in die Hüften gestemmt zu haben, wohingegen Vince noch immer die Arme verschränkt hielt.
Wieder hörte sie Sam leise lachen. Dann trat er aus der tiefschwarzen Dunkelheit und lief auf sie zu. »Hast du ein Reese’s in deiner Süßigkeitentüte?«, fragte er Conner.
»Bestimmt zehn oder zwanzig!«
»Gut. Dann kannst du deinem alten Dad ja eins abgeben.«
»Ich hab massenhaft Süßigkeiten. Komm mit und schau sie dir an.«
Sam blickte Autumn fragend an. »Hast du was dagegen?«
Als spielte das eine Rolle. Sie schüttelte den Kopf und sah jetzt auch Vince aus den Schatten auf sie zukommen. »Umarme deinen Onkel zum Abschied«, befahl sie Conner.
»Okay.« Conner, der von den Halloween-Süßigkeiten schon total aufgeputscht war, rannte zu Vince und schlang ihm die Arme um die Taille. »Tschüs, Onkel Vince.«
»Mach’s gut, Nugget. Zeig mir die Faust.«
Conner hob die geballte Faust und zog sie rasch wieder zurück. »Zu langsam, Schlafmütze.« Er rannte zurück zu seinem Vater, nahm ihn bei der Hand und zog ihn die Treppe hinauf. Autumn wartete, bis sie im Haus verschwanden, bevor sie fragte: »Worum ging es denn?«
»Wir haben eine Abmachung getroffen.«
»Was für eine Abmachung? Was hat er gesagt?«
Vince schwang sein Bein über die Harley und richtete die Maschine auf. »Schon gut.«
»Vince! Was für eine Abmachung?«
Er seufzte. »Er hat mir gesagt, dass er vorhat, öfter hier zu sein, und dass ich mich lieber an seinen Anblick gewöhnen soll.«
»Und?«
»Nichts.« Das Motorrad erwachte grollend zum Leben, verpestete die Nachtluft mit einer doppelten Portion Abgase und machte dem Gespräch ein Ende. Er setzte rückwärts aus der Einfahrt und fuhr los. Autumn stand nur da und sah ihm entgeistert nach. An der Sache war mehr dran als »nichts«. Sie kannte Vince zu gut, um ihm das abzunehmen.
Sie seufzte schwer und stieg die Treppe zur Haustür hinauf, die mit einem freundlichen Geist geschmückt war. Sie war müde von der
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