Kussen hat noch nie geschadet
Nova Scotia gelang ein Tor und ein Assist, nachdem die Scheibe jeweils von Sams Stock abgeprallt war. Sam war so angepisst gewesen, dass er es ihm heimgezahlt hatte und dafür eine doppelte kleine Strafe absitzen musste. Während seiner Zeit auf der Strafbank machten die Penguins in einer Fünf-gegen-vier-Spielsituation ein Tor und gewannen mit vier zu drei.
An jenem Abend bestieg Sam den Mannschaftsjet, schaltete die Shuffle-Funktion seines iPod ein und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren. Er wollte das Spiel einfach nur vergessen. Nicht mehr an abprallende Pucks und unnötige Strafschüsse denken. Eigentlich wollte er an überhaupt nichts denken. Das machte das Leben leichter.
In der vergangenen Woche hatte er viel an seine Schwester Ella gedacht. Öfter als sonst. Vielleicht, weil er sich bemühte, mehr Zeit mit Conner zu verbringen. Mehr Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen. Die Last dieser Verantwortung jagte ihm eine Heidenangst ein. Dabei war es für ihn keine neue Last. Nur eine, die er schon lange nicht mehr getragen hatte.
Nach dem Tod seines Vaters hatte er die Rolle des Familienoberhaupts übernommen und damit die Verantwortung für seine Mutter und seine Schwester Ella. Zwar nicht die finanzielle, damals noch nicht, allerdings die moralische. Er hatte diese Aufgabe sehr ernst genommen – so ernst, wie man das als Junge eben konnte. Seine Mutter war eine starke, tüchtige Frau gewesen. Das war sie noch immer, aber Ella … Ella war ohne ihren Dad verloren gewesen. Verloren und innerlich leer, und Sam hatte die Leere in ihr ausgefüllt. Er hatte auf sie aufgepasst und dafür gesorgt, dass ihr nie etwas Schlimmes zustieß. Sooft es ihm möglich war, ging er mit ihr irgendwohin, wo sie Spaß haben konnte. Den ganzen Sommer lang ließ er sie und ihren glänzenden blonden Pferdeschwanz nicht aus den Augen. Und während des Schuljahres sorgte er dafür, dass sie ihre Hausaufgaben machte und die richtigen Freunde hatte.
Mit neunzehn war er in der ersten Runde der NHL-Talentziehungen ausgewählt worden und fast achthundert Kilometer weg nach Edmonton gezogen. Er war so oft zu Besuch nach Hause gekommen, wie es ihm möglich war, und hatte fast jeden Tag mit Ella telefoniert. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte er ihr ein Auto gekauft, und als sie die Highschool abschloss, lud er sie nach Cancún ein, um mit ihr zu feiern. Noch im selben Sommer war er dann zu den Maple Leafs gewechselt, und Ella zog mit ihm nach Toronto, wo sie an der York University studierte und einen Bachelor-Abschluss in Erziehungswissenschaften machte. Er war wahnsinnig stolz auf sie gewesen. Sie war schön, klug und lustig, und die Zukunft stand ihr offen.
Doch dann traf sie Ivan, und sie veränderte sich. Schon kurze Zeit, nachdem die beiden zusammengekommen waren, wurde sie verschlossen, mürrisch und heimlichtuerisch. Als ihm zum ersten Mal ein Bluterguss in ihrem Gesicht auffiel, stattete er Ivan auf der Baustelle, auf der er gerade arbeitete, einen Besuch ab. Er schlug den kleinen Scheißkerl nieder, setzte ihm seinen Schuh in Größe 49 auf die Brust und drohte damit, ihn umzubringen, wenn er an Ella je wieder einen blauen Fleck entdeckte. Das Ergebnis seiner Einmischung war, dass er seine Schwester immer seltener sah. Aber nachdem Ella und Ivan anderthalb Jahre lang eine Beziehung geführt hatten, die einer emotionalen Achterbahnfahrt glich, verließ sie ihn endlich. Sam holte sie zurück nach Regina, Saskatchewan, wo sie in einem kleinen Apartment nicht weit von ihrer Mutter wohnte. Sam war erleichtert und euphorisch. Seine Schwester nahm wieder Kontakt zu ihrem alten Freundeskreis auf und wurde langsam wieder sie selbst. Als er sie zum letzten Mal sah, strahlten ihre großen blauen Augen, und sie war wieder die alte Ella: glücklich und voller Leben.
Er war zu Hause in Toronto, als ihn der Anruf erreichte, der sein Leben für immer veränderte. Es war der dreizehnte Juni, und er hatte gerade mit den Jungs eine Runde Golf zu Ende gespielt, saß an seinem Esstisch und ließ sich ein Peameal-Sandwich mit Chips schmecken, das er sich auf dem Nachhauseweg mitgenommen hatte. Er war gerade halb mit seinem Mittagessen fertig, als seine Mutter ihn anrief, um ihm mitzuteilen, dass Ella ermordet worden war. Dass Ivan durch halb Kanada gereist war, um sie aufzuspüren, und als sie nicht zu ihm zurückkommen wollte, zuerst sie und dann sich selbst erschossen hatte. Seine schöne, clevere Ella war tot, gestorben durch eine
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