Kusswechsel
verabschiedete er sich.
Wie aus dem Nichts tauchte ein schwarzer Hummer auf und hielt neben mir an. Junkman stieg ein, und der Hummer tauchte wieder in der Straßenschlucht unter. Keine Chance, das Autokennzeichen zu erkennen.
Ich blieb vollkommen still und steif sitzen, bis ich die Rücklichter des Hummer nicht mehr sehen konnte. In dem Moment, als sie aus meinem Blickfeld schwanden, schwand auch meine Tapferkeit. Tränen liefen mir über die Wangen, und ich musste schwer schlucken. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte noch viele Doughnuts essen. Ich wollte meine Nichten verwöhnen. Wenn ich tot wäre, wäre Rex ein Waise. Und Morelli erst. An dem Thema wollte ich lieber gar nicht rühren. Ich wusste nicht, was ich von Morelli halten sollte, aber wenn ich ihm wenigstens gesagt hätte, dass ich ihn liebte! Ich hatte es nie laut ausgesprochen, ich weiß auch nicht, warum. Wahrscheinlich hat es nie richtig gepasst. Und ich hatte immer gedacht, dass ich dazu noch viel Zeit hätte. Morelli gehörte zu meinem Leben, seit ich Kind war. Ein Leben ohne ihn war kaum vorstellbar, aber welche Rolle er für mich in Zukunft spielen sollte, konnte ich mir manchmal genauso schwer vorstellen. Länger als zwei Monate mit ihm in einer Wohnung hatte ich bisher nicht ausgehalten, ohne verrückt zu werden. Wahrscheinlich kein gutes Zeichen.
Jetzt saß ich in der Zwickmühle. Tränen kullerten mir über die Wange, und meine Nase lief. Ich gab mir alle Mühe, mich nicht in Rotz-und-Wasser-Geheule hineinzusteigern.
Aufhören!
, ermahnte ich mich. Reiß dich zusammen. Leichter gesagt als getan. Ich kam mir verletzlich und inkompetent vor. Die verletzliche und inkompetente Stephanie wäre am liebsten zu Joe Morelli gelaufen. Die trotzige Stephanie wollte partout nicht nachgeben. Und die halbwegs intelligente Stephanie wusste, dass es gefährlich wäre, Rangers Truck vor Joes Haus abzustellen. Junkman würde ihn sofort erkennen, und Morellis Haus wäre ein Ziel für wer weiß was alles.
Ich nahm den Weg des geringsten Widerstands. Ich trat aufs Gas und ließ den Truck entscheiden, wohin er wollte. Natürlich fuhr er mich zu Ranger. Ich parkte an der üblichen Stelle, fasste unter den Sitz und holte Rangers Pistole hervor, eine Halbautomatik, bestimmt geladen. Die Behauptung, ich sei kein Waffenmensch, wäre schwer zu widerlegen. Ich glaube, ich weiß gar nicht genau, wie man mit einer Pistole umgeht, aber jemandem damit Angst einjagen, das würde ich wohl noch hinkriegen.
Ich verkroch mich in mein Kapuzenshirt, schloss den Truck ab und ging mit gesenktem Kopf durch den Regen zur Tiefgarage. Minuten später stand ich in Rangers Wohnung, die Tür hinter mir fest verriegelt. Die Pistole und die Autoschlüssel legte ich auf das Sideboard. Ich zog das Sweatshirt, die Mütze und die Kevlar-Weste aus und entledigte mich meiner nassen Schuhe und Strümpfe. Meine Jeans hatte sich bis zu den Knien mit Wasser voll gesogen, aber so war ich bereits den ganzen Tag herumgelaufen, und fünf Minuten würde ich wohl auch noch darin aushalten. Ich hörte auf zu jammern, ich hatte einen Mordshunger.
Also steckte ich flugs den Kopf in Rangers Kühlschrank und entnahm ihm einen seiner Magerjoghurts. Ich wollte auf keinen Fall mit einem Rettungsring aus Speckfalten um die Taille auf der Totenbahre liegen.
Wenig später kratzte ich den letzten Rest aus dem Joghurtbecher und sah Rex an. »Lecker«, sagte ich. »Jetzt bin ich pappsatt.«
Rex lief in seinem Laufrad und hatte keine Lust zu antworten. Rex war etwas langsam im Kopf. Er verstand keinen Sarkasmus.
»Vielleicht sollte ich mal Morelli anrufen«, sagte ich zu Rex. »Was meinst du?«
Rex wollte sich nicht festlegen, deswegen wählte ich einfach Morellis Nummer.
»He«, sagte Morelli.
Ich antwortete mit huldvollster Stimme. »Ich bin’s. Tut mir Leid, dass die Verbindung heute Nachmittag so schlecht war.«
»Du musst dein künstliches Rauschen noch üben. Es klingt irgendwie zu schwerfällig.«
»Ich fand es eigentlich ganz gut gelungen.«
»Eher zweitklassig«, sagte Morelli. »Was gibt’s Neues? Rufst du wegen Ward an? Offenbar ist er abgehauen.«
»Er ist uns entwischt.«
»Der entwischt anscheinend jedem. Sein Bruder hat ihn auch noch nicht wiedergesehen.«
»Hm. Interessant.«
»Ihr habt ihn doch nicht etwa entführt, oder?«
»Was für ein hässliches Wort.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Morelli.
»In Wirklichkeit willst du doch gar keine Antwort auf deine
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