Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
ganze Zeit in mir geschwelt hatte. Unwillkürlich spielten meine Finger mit dem Anhänger, den mir meine Mutter vor wenigen Stunden umgelegt hatte. Sie hatte Frieden schließen wollen, aber es konnte keinen Frieden geben. Denn vor drei Tagen hatte ich eine Nachricht erhalten, die mir bewiesen hatte, wie sehr sie mich belog. Nicht von ungefähr war Hazel, das Mädchen aus den Reservaten, mir gerade jetzt deutlich in Erinnerung gekommen. Vor drei Jahren hatte ich sie getroffen, während ich mich mit einer Grippe im Heilungshaus aufhielt. Bei meinen nächtlichen Streifzügen hatte ich sie in der Lounge getroffen, und wir hatten uns unterhalten. Sie war bei einem Brandunfall verletzt worden, und ihrer Großmutter, die irgendwelche Beziehungen zu Leuten in NuYu hatte, war es gelungen, ihr hier in La Capitale eine ärztliche Behandlung zu verschaffen. Ich wusste natürlich, was für eine Ausnahme das bedeutete. Die Reservate hatten sich nach der Großen Pandemie im Jahr 1975 entschlossen, unabhängig von NuYu – New Europe – zu bleiben und sich nicht dem neuen Staatenverbund anzuschließen. Mit der Folge, dass sie weitgehend auf dem technischen Stand von vor hundertfünfzig Jahren stehen geblieben waren. Der Kontakt zu ihren Einwohnern war zwar nicht verboten, aber die Gebiete galten als rückständig, unhygienisch und gefährlich. Man sprach sogar hin und wieder von Anschlägen an den Grenzen, sporadisch auftretenden Seuchen, vor allem aber von Übergriffen auf Besucher aus NuYu. Noch vor wenigen Tagen hatte mir Bonnie von einer Bekannten erzählt, deren Sohn mit einem Segelboot in die Hoheitsgewässer des nördlichen Reservats geraten war. Man hatte ihn später verstümmelt am Strand gefunden. Es hieß, die Einwohner behandelten Eindringlinge aus NuYu brutal. Ich hatte dazu geschwiegen. Ich glaubte ihr nicht.
Hazel hatte nämlich davon berichtet, dass ihre Großmutter vor sechzig Jahren aus NuYu geflohen und freundlich aufgenommen worden war. Sie hatte einen Einheimischen geheiratet und eine große Familie gegründet. Wer immer Aufnahme bei ihr suchte, wurde willkommen geheißen. Hazel hatte mir viel von dem »Land am Ende der Welt« erzählt. Sie liebte ihre Heimat und schien den mangelnden technischen Fortschritt nicht zu vermissen. Wir hatten uns versprochen, in Kontakt zu bleiben, auch wenn das schwierig werden würde. Aber es gab Möglichkeiten. Wenn auch nicht eben legale.
Allerdings wurde unsere Absicht zunichtegemacht. Ich wurde aus dem Heilungshaus entlassen, Hazel von ihrer Großmutter ins Reservat zurückgeholt, und kurz darauf erhielt ich auf offiziellen Wegen die Nachricht, Hazel sei ihren Verletzungen erlegen. Die Trauer um meine Freundin hielt lange an. Aber dann trafen letzte Woche, auf ziemlich ungenehmigten Wegen, ein kurzer Gruß und ein Glückwunsch zu meinem Geburtstag von ihr ein.
Die Nachricht von ihrem Tod war falsch gewesen.
Ich hegte den Verdacht, dass meine Mutter mir damals absichtlich die Falschmeldung übermittelt hatte. Also stellte ich sie zur Rede. Sie leugnete nicht, behauptete, es sei – wie üblich – zu meinem Besten. Unser Streit nahm galaktische Ausmaße an, als ich mir zum Geburtstag eine organisierte Reise in die Reservate wünschte, um Hazel zu treffen. »Unmöglich« war das Wort, das mehrfach fiel. Mutter hielt den Aufenthalt in den »schmutzigen« Gegenden für viel zu gefährlich für mich. Dabei waren diese Fahrten wirklich sicher. In komfortabel ausgestatteten Langstreckenbussen fuhr man in von versierten Reiseleitern geführten Gruppen zu den Sehenswürdigkeiten dieser rückständigen Gebiete. Den Bildern zufolge, die ich von ihnen gesehen hatte, gab es wirklich eindrucksvolle Orte, und zusammen mit Hazels Schilderungen war der Wunsch in mir gewachsen, sie zu besuchen. Ich wollte keine Dokumentation über wilde Meeresküsten auf dem Bildschirm sehen, ich wollte das Meer riechen, die Brandung hören, den feuchten Sand unter meinen nackten Füßen spüren.
Nun aber hatten Mutter und Ma Donna Saphrina entschieden, dass ich Novizin im Tempel der Matronae werden sollte. Eine Gefangene in dieser Institution.
Ich knurrte wütend vor mich hin und stauchte das Kopfkissen zusammen.
Aber dann siegte schließlich doch die Müdigkeit, und ich dämmerte weg.
Tief konnte mein Schlaf allerdings nicht gewesen sein, denn schon im Morgengrauen weckte mich ein Geräusch auf dem Gang. Diesmal war es nicht die Wut über meine Mutter, sondern der Gedanke an den Jungen, den ich in
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