Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
aufgetreten, genau wie Alvar es gesagt hatte. Die Angst vor dem baldigen Sterben, die ständige Bedrohung meines Lebens war gewichen, an ihre Stelle getreten war – Wut. Ungeheure Wut auf jene, die mir das angetan hatten. Und ich wusste nicht, wer diejenigen waren, die meiner Mutter schon bei meiner Geburt bescheinigt hatten, dass ich eine Gendefekte sei.
Wieso hatte sie es eigentlich nie überprüft?
Offensichtlich war das ja ganz einfach.
Wieso hatten die Ärztinnen nie festgestellt, dass dieser »Defekt« lediglich meine Weisheitszähne betraf? Hätten sie es nicht merken können, so oft, wie sie mich gepiekst und untersucht hatten?
Oder hatten die Ärztinnen und meine Mutter gemeinsam beschlossen, mir das einzureden?
Aber warum?
Ich tastete nach dem Anhänger, den ich immer unter meiner Kleidung trug. Umgedreht, sodass man den Brillanten nicht sehen konnte. Meine Mutter hatte ihn mir gegeben als Erinnerung an meinen achtzehnten Geburtstag. Es war eine ihrer liebevollsten Gesten, wenn sie nicht gespielt war. In den Anhänger eingraviert war das Todesdatum meines Vaters – drei Tage vor meiner Geburt. Aber sie hatte mir nicht gesagt, dass es das Amulett war, in dem er sein Id getragen hatte. Warum denn nur nicht?
Sie sei ihm sehr zugetan gewesen, hatte Dr. Martinez gesagt.
Sie hatte ihn, als er im Sterben lag, zu sich nach Hause geholt.
Ich wusste inzwischen, wie weh es tat, einen Menschen zu verlieren, den man liebte.
Oh, Scheiße, wer hatte Mama das angetan? Wer hatte ihrer Trauer noch die Grausamkeit hinzugefügt, ihr zu sagen, dass das Leben ihrer Tochter ständig bedroht war?
Jemand hatte ihren Schmerz ausgenutzt.
Aber wer, verdammt noch mal? Es musste jemand gewesen sein, dem sie bedingungslos vertraut hatte.
Wenn man jemandem wirklich Schaden zufügen will, muss man zuvor sein Freund werden. Das hatte Alvar gesagt.
Welche falsche Freundin, welcher falsche Freund hatte meiner Mutter das angetan?
Und warum? Warum?
Vor Wut sah ich rote Sternchen.
Aber schwindelig war mir nicht.
Eine Weile kochte ich vor mich hin.
»Füll die Leere, die die Angst hinterlässt, nicht mit Wut oder Hass«, hatte Alvar gesagt.
Jetzt verstand ich plötzlich, was er meinte. Also atmete ich tief die pinienharzduftende Luft ein und stand auf. Mit zu einer Schale geformten Händen schöpfte ich etwas Quellwasser und trank davon.
Süß, ein bisschen modrig schmeckte es, aber es kühlte meine Wut.
Wut war nicht das richtige Gefühl, das den Platz der Angst einnehmen sollte. Wut machte das Denken schwer. Besser war es, etwas zu planen, zu planen, wie ich an weitere Informationen kam. Die einzigen hilfreichen Verbindungen zu NuYu waren Alvar und Cam.
Dabei fiel mir ein, dass Cam auch gewusst haben musste, dass der Gendefekt eine Lüge war. Er hatte Reb die Unterlagen mitgegeben, in der Annahme, er würde mir davon berichten. Er hatte kurz danach auch herausgefunden, dass Bonnie mich umbringen wollte. Wie viel Interesse mochte er daran haben, das ganze Lügengewebe aufzudecken? Es betraf ihn nicht persönlich. Und vermutlich hatte er ganz andere Aufgaben.
Andererseits – warum hatte er als Ole MacFuga meine Bekanntschaft gesucht? Und – was hatten seine Abschiedsworte und der leidenschaftliche Kuss zu bedeuten?
Welches Interesse hatte er an mir?
Dass er in mich verliebt sein könnte, erschien mir denn doch zu simpel. Obwohl der Gedanke mir schmeichelte und mich deutlich aufmunterte.
Wie auch immer – Cam konnte mir nützlich sein, und ich würde gut daran tun, meine nächste Nachricht an ihn sehr sorgfältig zu formulieren.
Alvar war ebenfalls nicht persönlich betroffen von meinem Problem, aber er kannte meine Mutter. Auch was das anging, könnte ich einige Antworten einfordern. Und so ganz langsam dämmerte mir, dass ich wahrscheinlich doch wieder zurückgehen musste, um mit Mama selbst über die Angelegenheit zu sprechen.
Aber jetzt noch nicht.
Ich ließ meine Hände in dem gemauerten Becken vor dem Quellhäuschen im Wasser baumeln.
Heilsam solle es sein, sagten die Alten. Jene, die es einst errichtet hatten. So hatte Willow es mir erklärt. In früheren Zeiten war man hergekommen, um das Wasser zu trinken, wenn man krank war.
Ob es geholfen hatte?
Meine Gedanken wanderten zu den Kindern, die gestern krank geworden waren. Ob sie die Masern hatten, würde sich erst noch zeigen müssen, es könnte auch eine ganz normale Erkältung sein. Hatten sie sich allerdings wirklich infiziert, und dann auch noch
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