Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
junge Frau herbei. Während sie den Jungen, er mochte neun oder zehn sein, aufhob, rief sie nach Jenevra.
Ich ging ebenfalls zu ihr. Jenevra legte dem Jungen die Hand auf die Stirn und sagte: »Ja, er hat hohes Fieber.«
Nicht nur das, er hatte auch verschwollene Augen, Schluckbeschwerden und klagte über Gliederschmerzen.
»Ist er geimpft?«, fragte ich leise.
»Nein. Wir wollen das nicht«, antwortete seine Mutter.
»Kyria könnte aber recht haben, Merle. So fangen die Masern an. Hatte er sie schon?«
»Nein. Also haben sie es wahr gemacht.« Ein giftiger Blick traf mich.
»Vielleicht. Aber Kyria ist ganz gewiss nicht schuld daran.«
Einige Leute versammelten sich um uns, und die Eltern der beiden Quengler merkten, dass auch ihre Kinder hohes Fieber hatten.
»Bringt sie nach Hause. Und alle hier sollten sich gründlich waschen.«
Es sprach sich sehr schnell herum, dass die ersten Krankheitsfälle aufgetreten waren, und einer nach dem anderen verließ das Fort. Die Stimmung war ausgesprochen gedrückt, und mir schlug eine Welle des Misstrauens entgegen.
»Mach dir nichts draus. Wir sammeln unser Geschirr ein und verschwinden auch«, sagte Hazel. »Die werden sich schon wieder beruhigen.«
Ich hoffte es inständig, denn ich hatte eben erst angefangen, mich heimisch zu fühlen, hatte einen Teil meiner beständigen Angst abgelegt und auf seltsame Weise Hoffnung geschöpft, dass ich Reb wiedersehen würde.
AM QUELLHÄUSCHEN
G anz ohne Arbeit ging es auch am Sonntag nicht, aber zumindest wurde weder geerntet noch eingekocht, und am Nachmittag konnten wir unseren eigenen Beschäftigungen nachgehen. Eigentlich wollte ich Willow bitten, mich zur Quelle zu begleiten, doch als ich sie nach dem Essen suchte, fand ich die alte Dame von einem Sessel im Salon verschlungen. Sie schlief tief und fest. Ich mochte sie nicht wecken, sie hatte die ganze Woche schwer gearbeitet. Hazel besuchte eine ihrer zahllosen Cousinen, Jenevra war mit Gort weggefahren, und mit den anderen war ich noch nicht so vertraut, dass ich sie bitten mochte, mich zu begleiten.
Also holte ich mir ein Fahrrad aus der Scheune und radelte allein zu dem Pinienhain, in dem an einer verborgenen Stelle ein uraltes Quellhäuschen in einem Kreis dunkler Eiben stand. Zweimal hatte Willow mich hierhin mitgenommen, und jedes Mal war es eine überwältigende Erfahrung gewesen. Zu Hause hatte ich in der Stadt gelebt, Natur war in Parks und Gärten gezähmt, die Gebäude neu, licht, überall mit verborgener Technik ausgestattet. Innere Einkehr fand man in den Tempeln der Großen Mutter. Schöne, stimmungsvoll ausgeschmückte Räume, von sanften Tönen durchwebt, weihrauchduftend, von Kerzenlicht und verdeckter Beleuchtung erhellt. Ich hatte sie nur selten besucht, meist zu den üblichen Feiertagen. Sie gefielen mir nicht besonders. Hingegen faszinierte mich dieses kleine, aus grob behauenen Granitblöcken gemauerte, flechtenüberwachsene Häuschen, das über einer klaren Süßwasserquelle errichtet worden war. Sein spitzer Giebel ragte zwischen Heidekraut und Farnen auf. Mit dem steinernen keltischen Kreuz auf seinem First war es kaum so groß wie ich. Einige Felsblöcke, wie zufällig darum verteilt, luden dazu ein, Platz zu nehmen und die Gedanken schweifen zu lassen. Willow hatte mir erzählt, die Quelle sei einer Heiligen gewidmet, früher aber habe man hier eine Göttin verehrt. Mit Göttinnen stand ich auf Kriegsfuß. Zumindest mit denen, die ich aus NuYu kannte. Aber die Stille und den Frieden an dieser Stelle hatte ich gespürt. Vielleicht, weil Willow sich hier geduldig all meine Sorgen angehört, mich getröstet und aufgerichtet hatte.
Ich setzte mich also auf den Stein und lauschte dem Zwitschern der Vögel, dem fernen Rauschen des Meeres, dem leisen Plätschern des Quellwassers, dem Wispern der Blätter und Zweige.
Vor vier Tagen hatte Dr. Grenouille mir von der großen Lüge über meine angebliche Erbkrankheit berichtet, und ich hatte meine Erschütterung darüber mit Arbeit, Tanz und Geselligkeit verdrängt. Es war an der Zeit, sich der Erkenntnis zu stellen. Ja, Willow wäre mir jetzt eine gute Ratgeberin gewesen. Sie war eine kluge, besonnene Frau, die viel in ihrem über achtzigjährigen Leben erlebt und über all das gründlich nachgedacht hatte.
Aber sie hatte natürlich auch ein Recht auf ihr sonntägliches Verdauungsnickerchen.
Ich musste lernen, allein mit solchen Dingen fertig zu werden.
Zum einen war da tatsächlich eine Leere
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