Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
noch immer Junora Kyria«, sagte ich mit einer Stimme, von der ich selbst merkte, dass sie klang, als würde ich Glas schneiden.
Tim und Kevin zuckten zusammen.
»Wow!«, flüsterte Ember hinter mir. »Wow.«
»Mesdemoiselles, was macht ihr denn hier?«, hörte ich eine weitere männliche Stimme.
»Oh, Robin!« Ember strahlte ihn an. »Wir haben Milan etwas zu essen gebracht und wollten uns die Bastelstube hier oben mal ansehen.«
»Bastelstube ist wohl der passende Ausdruck. Also lasst die Jungs mit ihrem Spielzeug allein und geht wieder tanzen. Das ist weit unterhaltsamer.«
Er war ein großer, bestimmt auftretender Mann, das Oberhaupt der Sippe, und Ember und ich folgten ihm ohne Widerrede.
Unten, im Gewimmel, wo die Musik laut über den Hof erklang, verließ Robin uns, und Ember zerrte mich in eine Wandnische.
»Was war das denn eben, Kyria?«
»Was?«
»Na, der Auftritt da oben. Mann, wo lernt man das, Männer mit Blicken zu Gewürm zu machen?«
»Habe ich das?«
»Aber locker. Du warst auf einmal zwei Meter groß und hast sie mit Eiszapfen durchbohrt.«
»Mhm – na ja, ich mag es eben nicht, blöd angemacht zu werden.«
»Ich auch nicht. Ich werde mir das merken, das mit den Eiszapfen.«
Wir mischten uns wieder unter die Tanzenden, und natürlich tauchte Fluke sofort auf.
Und Milan legte langsame Musik auf. Rund um uns fanden sich die Paare, tanzten eng umschlungen, und auch Fluke umarmte mich scheu.
Na gut, ein bisschen schmusen.
Es war nicht unangenehm, sich an seine Schulter zu lehnen. Dumm nur, dass ich zu träumen anfing. Und in meinem Traum war es eben nicht Flukes Schulter.
»Du denkst an jemand anders«, sagte er leise an meinem Ohr. Woher wusste er das nur? »Ich kann es spüren, Kyria.«
»Tut mir leid, Fluke. Tut mir echt leid. Ich mag dich, aber … «
»Ist schon gut. Man kann ja mal hoffen, oder?«
Als die Musik endete, machte ich mich von ihm los und bat ihn, mich eine Weile allein zu lassen. Er sah so unglücklich aus, dass ich ihm noch schnell einen kleinen Kuss gab. Dann aber drängelte ich mich durch die träge Masse, zu der die sanfte Musik die Tänzer gemacht hatte, und kletterte die schmalen Steinstufen hoch auf die Mauer.
Das Fort stand auf einer felsigen Anhöhe, und unter mir brachen sich die Wellen in schimmernder Gischt über dem Geröll. Am klaren Nachthimmel funkelte wieder diese unsagbare Menge von Sternen, deren Licht in den Meereswellen glitzerte. Gleichmäßig strich der Lichtstrahl des Leuchtturms an der anderen Seite des Caps über das Wasser, und der salzige Wind zupfte an meinen Haaren. Musik wehte zu mir hoch – Milan hatte in die Kiste mit den Klassikern aus dem 20. Jahrhundert gegriffen. Sie wurden hier genauso gespielt wie in NuYu.
Freddy Mercury fragt in »Bohemian Rhapsody«:
Ist das das wahre Leben? Ist das hier nur Fantasie, Einbildung?
An manchen Tagen kam es mir so vor.
Und dann sang Mercury von dem armen Jungen, der in Todesangst nach seiner Mama schrie.
Ich sah Reb vor mir. Reb, blutend, auf der Straße. Reb, der nach seiner verhassten Mutter schreien musste, um nicht zu verbluten.
Mein Herz tat so weh.
Die Schreie verhallten, eine neue Melodie legte einen tröstlichen Mantel um mich. Ich lehnte mich an eine Zinne. Die Steine waren noch warm von der Sonne. Und als ich die Augen schloss, damit meine Tränen sie nicht überschwemmten, sah ich ihn. Ich sah Reb, auf einem grauen Pferd, die Haare mit einem schwarzen Stirnband zurückgebunden, ein ärmelloses Wams, kniekurze Hosen. Im vollen Galopp donnerte er über den weißen Sand einer Bucht. Er schien in seinem Element, konzentriert auf das Tier, die Strecke, die Wendemarkierung. Sandfontänen stiegen auf, als er wendete und zurückjagte. Umrundete die fernere Marke, dann verlangsamte das Tier seinen Lauf, und als er diesmal auf mich zugeritten kam, wollte mir scheinen, als ob er mich anschaute.
»Reb«, flüsterte ich.
Er wischte sich eine Locke aus dem Gesicht.
Dann verblasste das Bild vor meinen Augen.
Dr. Grenouille hatte recht – ich sollte ihn anrufen. Irgendeinen Grund würde ich schon finden.
Nach einer Weile kletterte ich von der Mauer hinunter und schlenderte über den Hof. Einige Pärchen hatten sich zum Knutschen zurückgezogen, andere saßen mit verträumtem Gesicht auf ihren Stühlen und lauschten der Musik. Zwei Kinder quengelten. Ein anderes stolperte an dem geplünderten Büfett vorbei und fiel hin. Das misstönende Scheppern der Teller und Schüsseln rief eine
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