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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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geschäftlichen Angelegenheiten nicht im geringsten geschwächt.«
    »Es ist wie bei Sylva Jenka und ihrer Klanggedichtsammlung ›In diesem Noch-Leben‹.«
    »Aber ist Ihnen aufgefallen«, sagte sie eindringlich, »wie abstrakt die Werke der Toten werden? Ich frage mich, ob es daher kommt, weil ihre Realität bloß eine Computersimulation ist?
    Mein Bruder erzählte mir in einem seiner Briefe, wie er einmal im Hafen ein Boot genommen habe und fortgesegelt sei auf das Festland zu, aber je näher er der Küste gekommen wäre, desto verschwommener und undeutlicher sei sie geworden, bis er schließlich eine Art unsichtbarer Barrire überquert haben mußte – und plötzlich sei da nichts mehr gewesen. Kein Boot, kein Meer, keine Stadt Aghios Georghios, kein Körper, kein Selbst. Nur … Leere. Dann habe er zurückgeschaut, wo immer dieses ›zurück‹ auch liegen mochte, und er sah Thanos. Es schwamm in einer kleinen Blase aus Luft und Meer und Sonnenlicht mitten im leeren Raum.«
    Von den Zinnen über uns tönten die lebhaften Klänge griechischer Volksmusik, Lyra und Bozouki und Flöte und Händeklatschen. Es hörte sich wunderbar echt und real an und voller Lebenskraft.
    »Dann verschob sich die Leere, und mein Bruder war wieder im Boot auf dem Meer, und die Sonne schien und vor ihm lagen die blauen Hügel des Festlandes.
    Er sagte in seinem Brief, daß er wohl über die Grenzen der Simulation hinausgeraten sein müßte, über den Rand der Welt hinweg in das große Nichts auf der anderen Seite.« Sie schaute hoch, von wo die lebhafte Musik kam. Dort oben wirbelten Menschen herum, stampften mit den Füßen und jauchzten vor Freude.
    »Ich frage mich manchmal, wie es tatsächlich sein mag.«
    »Es heißt, daß man einfach alles tun kann, alles sein kann, was man will.«
    »So lange man innerhalb der Grenzen der Simulation bleibt.«
    »Richtig. Eine Freiheit erkauft auf Kosten der anderen. Meine Frau schrieb mir in ihren Briefen, wie sie den Tag verbringt: mit Schwimmen und Tennisspielen und Bridge und Plaudern. Sie erzählte, man könne den ganzen Tag über trinken, ohne jemals betrunken zu werden, man könne soviel und so oft essen wie man wollte und nähme niemals zu. Und natürlich gäbe es diese wundervollen imaginären Begleiter, die sie heraufbeschwören könne, wenn sie es leid sei, sich mit den größten Geistern und klügsten Köpfen der Welt zu unterhalten. Dann hat sie aufgehört zu schreiben.«
    »Ja, auch mein Bruder hat zu schreiben aufgehört. Ich kann mir nicht helfen, aber ich frage mich dauernd, ob dieses Traumleben nicht nach einiger Zeit reizlos wird. Vielleicht merken die Toten, wie ihre abgestumpften Gelüste sie nach immer Bizarrerem, Introvertierterem suchen lassen.«
    Ich mußte an den toten Mann im Frauenkörper denken, der mich in den Ruinen der Stadt angesprochen hatte, an die tote Frau im Beinhaus, die mir erzählte, daß gelangweilte Menschen sich mit seltsamen Dingen die Zeit vertreiben. Ich dachte an die Gestalten, die unter den Olivenbäumen Walzer tanzten, und ich erkannte, daß die Toten mit den Toten und die Lebenden mit den Lebenden tanzten.
    »Wir bedeuten ihnen nichts mehr«, sagte ich. »Sie leben in ihrer eigenen Welt, in der sie ihre eigenen Regeln aufstellen und ihre eigenen Bekanntschaften schließen, und die Liebe, die wir für sie empfanden, ist vergessen!«
    »Das ist mir bereits vor Jahren klar geworden«, sagte die Frau, »aber dennoch bin ich jedes Jahr am Allerheiligenabend hierher gekommen, bis ich heute nacht meinen Bruder traf und ihn begrüßte, und er erkannte mich nicht einmal. Er blickte glatt durch mich hindurch, und alle Liebe, die ich für ihn empfand, strömte einfach aus mir heraus auf den Boden und war vergangen.«
    Sie sah sich um. Ihre Augen waren sehr dunkel.
    »Ich hasse diesen Ort. Er wehrt sich zu sterben. Die Aussätzigen dagegen, sie starben, und ihre Vergangenheit starb mit ihnen, und ihre Knochen und Schädel wurden Teil der Insel. Aber die Toten, die Toten, die nicht sterben, sie gehen an diesem Ort um, sie bedecken ihn wie ein Leichentuch!
    Wenn Sie an irgendeinem anderen Tag des Jahres kämen, wenn es Ihnen gelänge, ungesehen an den schmucken Seeleuten vorbeizuschlüpfen, die an jedem anderen Tag des Jahres Maschinenpistolen tragen, würden Sie die Straßen leer und die Höfe verlassen und die Häuser verfallen und still vorfinden und alles voll Staub unter den Olivenbäumen, aber sie würden die Gegenwart der Toten rings um sich spüren,

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