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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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geworden ist. In die Taschen der Thanos-Stiftung ist ein kleines Vermögen geflossen, aber für mich blieb noch genug übrig, um weiter in dem dekadenten Luxus zu leben, an den ich gewöhnt bin.«
    Und dann sah ich sie plötzlich, in einem grünen Kleid. Sie huschte über die belebte Straße und eine Treppe hoch, die sich zwischen den Ruinen der Häuser hinaufwand.
    »Entschuldigen Sie, aber ich hab’ gerade gesehen …«
    »Sie haben gerade Ihre Frau gesehen? Dann kann ich nur sagen, viel Glück. Bonne chance!«
    Vorsichtig und doch so schnell, wie ich nur wagte, stieg ich die zerfallene Treppe hinauf und kam in einen Hof, wo Zypressen wuchsen. Unter den Bäumen waren Tische aufgestellt, an denen Leute saßen, die miteinander plauderten und Wein tranken.
    Ich schaute mich um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Ich hielt eine alte Frau an, indem ich sie am Arm faßte und fragte, ob sie eine junge Dame im grünen Kleid gesehen hätte, aber die Alte schüttelte den Kopf, langsam und bedauernd, und ging weiter, die Treppe hinunter.
    In den folgenden Stunden, während die Nacht dahinging, bahnte ich mir meinen Weg von Festungsring zu Festungsring bis zur höchsten Spitze der Insel. Ich tat es unbewußt, aufwärts gezogen durch irgendeinen geheimnisvollen Magnetismus. Ich ging durch Tavernen und Bierkeller und an Grillplätzen vorbei, umflutet von Foxtrottrhythmen und Klängen von Gavotte und Jive, durch Alkohol- und Opiumdünste und Tabakrauch, durch Massen von tanzenden Menschen in grellen Modeklamotten und klassischer Abendkleidung oder in ungezwungener Nacktheit. Aber ich fand sie nicht.
    Immer wieder hielt ich diese Leute an und stellte ihnen die gleiche Frage: »Haben Sie eine junge Frau im grünen Kleid gesehen?« Einige schüttelten den Kopf und stürzten sich erneut ins Vergnügen, andere nickten und wiesen auf ein Gäßchen oder eine Treppe oder einen Säulengang. Aber ich fand sie nicht.
    Gegen Mitternacht, der traditionellen Geisterstunde dieses Allerheiligenabends, als die Festlichkeiten sich zu höchster Raserei steigerten, glaubte ich plötzlich, sie die Stufen zum Beinhaus hinablaufen zu sehen. Ich rief ihren Namen, aber sie hielt nicht an, und als ich ihr folgte, fand ich das Beinhaus leer.
    So leer wie ein Beinhaus überhaupt sein kann. Auch einer der morbiden kleinen Scherze der Toten, denn die Schädel, mit denen die in Flutlicht getauchte Grube angefüllt ist, sind nicht die ihren. Ihre Körper ruhen in anabiotischer Stasis in Nekropolen, die tief in den Untergrund von Thanos gegraben sind. Diese Knochen hier stammen von den armen Aussätzigen, denen die Insel gehörte, lange bevor die wahren Toten sie mit Beschlag belegten.
    »Ah, dieser Schimmer von poliertem Elfenbein, wie wunderbar«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich wandte mich um. Eine tote Frau stand an meiner Seite. Sie beachtete mich kaum, sondern starrte fasziniert in die Grube hinein. Schließlich sah sie mich an. Ihre Augen waren sehr grün, sehr tot. Sie hätten schon seit vielen Jahren Staub sein sollen.
    »Unsere Macht über die Unsterblichkeit ist so schwach«, wisperte sie, »und unsere Welt, unsere Realität, ist so eng bemessen, und wirklich leben, so wie ihr, dürfen wir nur in dieser einen Nacht vor dem Allerheiligenfest.«
    Unter der Ziegelsteinkuppel des Beinhauses war die Luft trocken und rein, und das Flutlicht hob die kleinen Risse und Unebenheiten im Mauerwerk klar hervor. Schädel im Innern eines Schädels.
    »Und dennoch – besser dies, besser dieser einzige Tag Leben in meinem eigenen Fleisch, als das da unten …« Sie nickte zu den Schädeln hinab. »Wie wahrhaft klassisch, wie sehr Teil dieses Ortes. Eine Nacht im Jahr dürfen unsere Seelen das Fegefeuer verlassen, eine Nacht im Jahr werden die Körper von uns Toten erweckt, und wir bewegen uns unter den Lebenden. Doch mit dem ersten Licht des Tages sind wir fort, unser irdisches Fleisch zurück in die Gruft und unsere Seelen zurück in den Simulator. Es gefällt mir, es gefällt mir die … klassische Größe, die darin liegt. Wir sind der Stoff, aus dem schließlich Legenden gemacht werden, wir Toten.«
    »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Katharsis vielleicht. Vielleicht bin ich Kassandra, und ich rufe über die Grenzen herüber, die zwischen Tod und Leben liegen, um Sie vor der Langeweile des Totseins zu warnen.« Darüber mußte sie lachen.
    »Obgleich ich mich frage, was wohl langweiliger sein mag – auf diese Art tot oder völlig tot zu

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