Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
die Piraterie auf den Handelsrouten aller Völker außer Mode gekommen und selbst mächtiges venezianisches Mauerwerk kein Hindernis mehr für zehnzöllige Schiffskanonen.«
    Sie legte die Hände um ihre Knie und lehnte sich zurück, schaute empor, über die verfallene Festung hinaus, zu den Herbststernbildern am Nachthimmel.
    »Dann erklärte die neue griechische Regierung die Insel zur Leprakolonie. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß es bis vor etwa einem halben Jahrhundert in einem zivilisierten Land wie Griechenland noch so etwas wie Leprakranke gab. Man brachte sie damals von überall in der ganzen Ägäis hierher. Irgendwie traurig, finde ich. Das letzte, was sie von der übrigen Welt sahen, war der kleine Hafen von Aghios Georghios, während das Boot sie zur Insel hinübertrug. Sie wurden an Land gesetzt, und das Boot segelte fort, und sie mußten für den Rest ihres Lebens hier bleiben. Ich frage mich manchmal, wie sie wohl von den andern empfangen wurden, nachdem das Boot weggefahren war. Vielleicht voll trauriger Resignation, vielleicht voller Freude über die Ankunft eines neuen Bruders in ihrer kleinen Gemeinschaft. Doch trotz allem kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, daß dies ein trauriger Ort gewesen ist.«
    Sie sah mich an.
    »Der letzte Aussätzige starb 1950, die Kolonie wurde geschlossen und die Insel eine Art makabre Touristenattraktion. Horden von Ausflüglern mit Sonnenbrillen und Strohhüten schwärmten über die Insel, Bootsladung auf Bootsladung, klickten ihre kleinen Instamatic-Kameras und machten Schnappschüsse von den Ruinen des Dorfes und den Schädeln und den Gräbern. Das ist es, was ich traurig finde. Man sollte die Toten in Frieden ruhen lassen.«
    »Kaum Ruhe für die Toten«, sagte ich, »vor allem nicht, seit die Thanos-Stiftung die Insel den Griechen abgekauft hat. Ich hörte, daß der Preis, der bezahlt wurde, ausreichte, um die lahmliegende griechische Wirtschaft wieder anzukurbeln.«
    »Das habe ich auch gehört. Wissen Sie, wie man die Insel nannte, bevor die Toten sie übernahmen? Spiranaikos. Das war ihr Name: Spiranaikos. Aber die toten kamen und gruben ihre Nekropolen tief in den Boden und stellten ihre Computer auf und nannten sie von nun an Thanos. Und an einem Tag im Jahr, dem griechischen Allerheiligenabend, halten sie das Fest der Toten. Ihre Körper stehen wieder auf, und ihre Seelen kommen aus dem Simulator, und die Toten gehen unter den Lebenden umher.«
    »Das klingt bitter.«
    »Wirklich? Vielleicht bin ich verbittert. Ich sollte es sein. Auch ich habe jemanden gesucht.«
    »Ihren Mann?«
    »Nein, meinen Bruder. Wir standen einander sehr nahe, führten zusammen die Firma. Nahe, aber in Wirklichkeit war auch wieder jeder für sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nun, auf jeden Fall erkrankte er an … Sie wissen schon, und er wußte, daß ihm nur noch ein paar Monate blieben. Aber er wollte nicht in einem Bett liegen in irgendeinem bequemen, schrecklichen Hospiz für unheilbar Kranke und dahinsiechen ins Nichts, er nicht. Er verbrachte seine letzten Monate in dem großartig extravaganten Lebensstil, der für ihn typisch war. ›Hab’ in großem Stil gelebt, und verdammt noch mal, will auch in großem Stil sterben‹, sagte er, und Stil hatte er, wissen Sie.
    Als seine Stunde gekommen war, rief er mich zu sich in sein Ferienhaus in den Anden, und ich sah ihn dort auf dem Sofa liegen, und er sah schrecklich aus. Aber er lächelte und sagte: ›Vielleicht versucht der Tod eines Tages dich zu kriegen, aber mich bekommt er nicht, mich nicht‹, und er tippte sich an den Kopf und zwinkerte mir zu. ›Er war nicht billig, dieser Schuß ins Gehirn, aber der Tod wird mich nicht kriegen. Nach allem, was ich in diesem Leben geschaffen habe, lasse ich nicht zu, daß es wieder auseinanderfällt, bloß weil ich tot bin.‹ Ich war diejenige, die alles organisierte, wissen Sie, aber er hatte das schöpferische Talent, das die Firma zu dem machte, was sie heute ist. Dann setzte er sich auf und sagte: ›In drei Tagen werden sie wiederkommen und mich zum Haus des Todes bringen, und dann werde ich ewig leben.‹
    Und nach drei Tagen kehrten sie zurück und legten ihn in einen Stasisbehälter und flogen ihn nach Thanos, und er war fort. Anfangs bekam ich Briefe von ihm und Telefonanrufe und Berichte, und das Geschäft florierte. Der Simulator hat Verbindungen zur Außenwelt, und die Toten können weiterarbeiten wie im Leben. Das Totsein hatte seinen Scharfsinn in

Weitere Kostenlose Bücher