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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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kreischenden Reifen. Hier führten alle Wege nach Norden. Dieser Verkehr war unaufhaltbar, und sein Tempo nahm mit jeder Minute zu.
    »Das hat etwas Altvertrautes an sich«, sagte Tschereschnin langsam, nach Worten suchend. »Als ob ein Zukunftsmärchen Wirklichkeit geworden wäre. Ein Schiff mit einem Neutronenreaktor! Kann es sein, daß für es Zeit keine Rolle spielt?«
    »Wahrscheinlich. Die Zeit kommt ihm einfach nicht nach. Die Lichtschranke begrenzt die durchschnittliche Gruppengeschwindigkeit der Teilchenwellen. Und die Höchstgeschwindigkeit der De Broglie-Wellen zum Beispiel kann um vieles größer sein. Mir scheint, die Entdeckung der Lichtschranke kann mit der Entdeckung der ›unteilbaren‹ Atome verglichen werden. Eine weitere Annahme.«
    »Ja. Ich verstehe das so. Kann man etwa in Gedanken nicht die Lichtgeschwindigkeit um das Zwei-, Drei- oder Zehnfache steigern? In Gedanken ist dies nicht schwierig, stimmt’s? Das heißt, in dem unendlich komplizierten Universum muß es eine solche Möglichkeit geben. Es ist unmöglich, sich etwas Unmögliches auszudenken. Denn das Denken ist nur ein Widerschein, eine Reflexion der Wirklichkeit. Doch allgemeine Prinzipien sind eine Sache und Technik, Schiffe, Triebwerke eine ganz andere …«
    »Ja, Prinzipien allein genügen nicht. Die Inversionswirkung öffnet einen Korridor, in dem die Lichtgeschwindigkeit gerade erst die Minimalgeschwindigkeit ist, aber die Energie … dazu ist eine Kraft notwendig, die in der Lage ist, den Planeten in Bewegung zu versetzen. Deshalb dieser Sprung in den Norden. Weshalb, wissen Sie …? Ja, um eine merkliche Verlagerung der Erdachse zu verhindern.«
    »Aufs erste kaum zu glauben … Lichtjahre in drei Stunden! Ich kann Ihre Rückkehr abwarten, ohne das Führerhaus zu verlassen. Und diese Zeit kommt einer ganzen historischen Periode gleich.«
    Sergej ließ sich in den Sessel zurückfallen und versuchte, hier, auf den letzten irdischen Kilometern, die Müdigkeit und Schwere, die Erinnerung an beunruhigende Träume, die Last der Vergangenheit, alles Überflüssige wie einen alten, zu eng gewordenen Anzug abzustreifen. Und die nächtliche Fahrt schien seine Schultern tatsächlich um Jahrzehnte zu erleichtern.
    Tschereschnins Hände zitterten leicht, während er sich den Weg durch die Tausenden von Lichtern bahnte. Über der Erde erhob sich ein gespenstisches grünliches Flimmern.
    Die riesige Ebene glich einem Meeresboden, und sie waren hier wie in einem Bathyscaph [1] . Die Scheiben des Führerhauses schluckten die nächtlichen Geräusche, das Rascheln der Zweige und Gräser, das Getöse der Motoren. Die stille Nacht hätte unendlich scheinen können, doch über dem Wald erhob sich immer höher ein fernes Licht, wie ein Feuerschein im Land des ewigen Morgens. Dort begannen die Straßen in den Himmel.
     
    … Hier begannen die Straßen in den Himmel. In der blauen Nachtluft blinkten Raketenfeuer. Tschereschnin sah, wie Sergej die Gangway hinaufging – eine kleine Gestalt, fast ohne Umrisse. Die brunnenrunden Schiffsfenster leuchteten matt von innen her.
    Bis zum Abflug blieb nur noch kurze Zeit, vielleicht zwei, drei Stunden. Tschereschnin brachte das Auto fort, fuhr an den Straßenrand und legte sich wie üblich im Führerhaus in den breiten Sessel, der nach Öl und warmem Eisen roch. Er wußte, daß er das Auto zu nahe abgestellt hatte, doch er wollte es mit eigenen Augen sehen. Sehen, um es besser verstehen zu können. Das Rettungsschiff »Invertor« war nicht auf die Supernova gerichtet, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Und das beunruhigte ihn ein klein wenig, obgleich ein Fehler natürlich unmöglich war. Vage dämmerte ihm die Eleganz der Lösung.
    Er hatte die alten Schulbücher mit den graphischen Darstellungen der Weltlinien, mit den Beschreibungen des Raumzeitkontinuums und der verschiedensten Modelle des Universums fast vergessen – Bücher, aus denen er zum erstenmal erfahren hatte, daß man sich nicht nur eine oder zwei, sondern viele Erklärungen für die merkwürdige Verknüpfung von Raum und Zeit zurechtlegen konnte und sie alle mit der Relativitätstheorie übereinstimmten.
    Es waren doch Versuche unternommen worden, die Materie aus dem Universum auszuschließen. Alles ist nichts, hatte man in der Antike gesagt. Die Materie ist der erregte Zustand der dynamischen Geometrie, hatte man vor zweitausend Jahren gemeint.
    Was also, schien es, konnte man dem unendlichen Universum mit seiner unermeßlichen Zahl

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