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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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darüber gäbe es überhaupt nichts Besonderes zu sagen. Ein Raketenstartplatz wird gebraucht, also wird es ihn geben. Was heute noch Traum, ist morgen schon Wirklichkeit. Dennoch wurde gestritten. Bewiesen. Widerlegt. Berechnet. Kalkuliert. Hinter den unauffälligen Worten über die Zweckmäßigkeit verbarg sich diesmal etwas Neues. Die Folgen waren schwer abzusehen. Die Errichtung des Raketenstartplatzes verlangte ein Opfer. Wäre es nicht besser gewesen, die irdischen Ozeane und Meere in allen Einzelheiten zu erforschen? Das Erdinnere, den Erdmantel? Das, was tief unter unseren Füßen verborgen liegt?
    Uranerz vom Mars, Gold und Platin vom Merkur einzufliegen ist unwirtschaftlich. Einfacher wäre es, sie aus dem Meerwasser zu gewinnen.
    Und die Mikroweit? Vielleicht zog gerade der gigantische Raketenstartplatz jene Kräfte ab, die gestern und heute hätten dazu beitragen können, eine nicht weniger aufsehenerregende Reise ins Innere der Teilchen zu unternehmen, das Wesen der Kernfelder des Atoms zu erforschen und schließlich neue Energiequellen zu erschließen, die weitaus effektiver und wirtschaftlicher waren als die Weltraumflüge zu denselben Zwecken?
    Wenn der Mensch eine zweite Chance hätte? Wie sähe die mit seinen Händen und seiner Begabung geschaffene Welt aus? Vielleicht wären die Elektrizität oder das Neutrino um ein Jahrzehnt oder Jahrhundert früher entdeckt worden? Vielleicht hätte man sich durch das Labyrinth des Fortschritts, in dem der Imperativ immer wieder in die Sackgassen des Zufalls gerät, einen kürzeren Weg bahnen können?
    Eines ist klar – vieles hätte sich, möglicherweise bis zur Unkenntlichkeit verändert.
    Der Raketenstartplatz bedeutete einen neuen einschneidenden Wendepunkt – Auge in Auge mit dem Kosmos. Noch nie in ihrer Geschichte hatte die Menschheit so viel Energie, Mittel und Zeit aufgewendet wie für die Erforschung des Kosmos. Die wissenschaftlichen Ergebnisse standen außer Zweifel, doch führten sie, wie es manchmal den Anschein hatte, nicht auf dem kürzesten Weg zum Ziel.
    Und dennoch, was auch immer darüber gesprochen wurde, kaum einer zog das Recht, sich zu irren, in Betracht. Sich zu irren und neue Gesetze zu entdecken. Nebenbei. Zufällig. Wie Röntgen seine Strahlen.
    Die Rückseite der Galaxis wurde gesucht und gefunden. Was weiter? Die Welt hat sich geschlossen, gleicht nun einem Globus, doch ist es etwa schwer, sich einen anderen Raum vorzustellen – die Zeit, endlos, wie eine sich aufdrehende Spirale? Und vielleicht hofft der Sonderling von einem Physiker, ein übrigens auf seinem Gebiet bekannter Wissenschaftler, derselbe, von dem Sergej gesprochen hatte, noch immer auf einen Zufall. Auf seinen Zufall, der zeigt, daß sich die Zeit entlang der Windungen der Spirale fortbewegt, so wie der elektrische Strom in einer Spule. Doch zwischen den Windungen kann seiner Meinung nach auch geradeaus gesprungen werden. So wie der elektrische Funken die Wicklung des Solenoids durchbricht, wenn die Spannung steigt. Eine merkwürdige Idee immerhin!
    Daraus ergibt sich, daß die Rückseite des Universums bereits eine andere Windung ist. Eine neue Welt, die der unseren wie ein Spiegelbild gleicht.
     
    Er fühlte, daß es an der Zeit war, umzukehren, und ging rasch an dunklen, noch nicht erwachten Seen vorbei zum Auto. In dem morgendlichen Halbdunkel ertönte in vierzig Kilometer Entfernung, auf dem Raketenstartplatz, eine monotone Melodie, so als sängen dort Waldhörner. Die Erde atmete, er spürte den Rhythmus dieses Atems. »In Deckung, in Deckung!« sangen die Waldhörner. Leichtes Donnergrollen kam auf. Der weiße Morgenstern blinkte. Ein blauer, in die Höhe fahrender Strahl riß den Himmel entzwei. Das Echo des Waldes wiederholte die Alarmtöne.
    Es wurde taghell und noch heller. Über dem grün aufflammenden Wald, über den Feldern, über den grauen Straßen erhob sich ein Feuerschein. Eine leuchtende Wolke schwebte über dem Horizont. Das Licht kam für einen Augenblick zum Stillstand, entriß dem Dunkel, schwarz wie der Meeresboden, Bäume, Sträucher, Inseln staubigen Grases. Das Licht stach in die Augen. Die Explosion blendete. Als Tschereschnin die Augen öffnete, da sah er, daß die Wolke emporstieg, erlosch und in roten Trauben auseinanderstob.
    »In Deckung, in Deckung!« sangen die Waldhörner in der Ferne.
    Die Erde unter den Füßen machte einen Ruck. Matte Schatten liefen durchs Gras. Ein grüner Punkt blitzte über dem Kopf auf. Ein Vogel begann

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