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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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hatten.
    Das Meer liebte er nicht. Vielleicht, weil am Meer der Mensch in vielem nicht allein von sich abhängig ist. Da schreit ein unsichtbarer Tauchervogel, kommt der Sewerik – der Nordwind – geflogen, braut sich ein Unwetter zusammen, und man muß sich durch brodelndes Wasser durchschlagen, das von unten und oben, von allen Seiten zu gießen scheint. Nur selten bleibt da ein Kutter auf seinem Kurs.
    Aber was ist schon das Meer! Die Frühlingsflüsse in der Zeit der Holzflößerei, weit wie Meere, und der Wind, scharf wie ein Messer – sind sie etwa nicht stärker als der Mensch?
    … An einem Maimorgen hatte er mit seinem Sohn zugesehen, wie Floße gebunden werden, das Rundholz ins Wasser gelassen wird, wie die Flößer, lediglich mit Flößerstangen arbeitend, Stauungen auseinandertreiben. Kann man da der Versuchung widerstehen, selbst mit einer Flößerstange in der Hand flußabwärts zu fahren? Tschereschnin hatte gesehen, wie er über die einer wackeligen Brücke gleichenden Baumstämme lief, wie er umfiel, wie ein tückischer Baumstamm sich unter ihm drehte und ein zweiter seitlich auf ihn zukam – eine Riesenkiefer, die der Strömung entkommen war. Nur daran, wie er den Sohn herauszog, erinnerte sich Tschereschnin nicht. Offensichtlich hatte ihm einer der Flößer geholfen oder waren vielleicht dann auch Leute zusammengelaufen …
    Dem Jungen wurde die linke Hand abgenommen, und eine neue wollte er selbst nicht. »Warte nur, Vater«, hatte er gesagt, »schreiben und arbeiten kann ich auch so, das Fliegen wird man mir auch erlauben, dafür ist auch später noch Zeit.« Doch bisher hatte sich nie Zeit dafür gefunden …
    Er erinnerte sich auch an den Sohn am Tag dessen Abflugs, wunderte sich ein wenig: wie sie ihm, einem derart bescheidenen und äußerlich unauffälligen Menschen, die Ehre erwiesen hatten, als zweiter Pilot zu fliegen. Offensichtlich besaßen sie doch eine gute Menschenkenntnis …
    Seit der Zeit, da Tschereschnin allein war, führte er im wesentlichen ein halbnomadisches Leben, und es gefiel ihm. Wieviele Städte hatte er Gelegenheit gehabt zu sehen, und wieviele Menschen! Und erst die Fahrten durch Wälder und verschneite Ebenen, wenn das Auto über der Erde zu fliegen scheint!
    In den vielen Jahren hatte er so viele Kilometer heruntergeradelt, daß es, wollte man die Straßen geraderichten, zu manchem Stern reichen würde. Die Jahre verflogen unmerkbar, und manchmal fragte er sich: ist das auch das Leben?
    Ja, das war das Leben. Er erinnerte sich, wie er vor langer, langer Zeit, noch mit seinem Vater, an Seen, in Buchten gesessen war in der Zeit des Frühlingsflugs, wenn die Enten auf schrägen Flügeln aus rosafarbenen Birkenwäldern ins Wasser plumpsten. Wie sie durch dunkles, lebhaftes und gleichzeitig träges Wasser geschritten waren und sich an Lagerfeuern wärmten, Tee mit Preiselbeeren [2] kochten und Enten samt Federn brieten, die sie zuerst mit Lehm eingerieben hatten. Eine seltsame Zeit war das gewesen.
    Damals wurde bereits ernstlich über das Projekt eines gigantischen Staudamms über die Beringstraße diskutiert – mit Turbinen, die in der Lage waren, die kalten arktischen Gewässer in den Süden zu vertreiben, das Klima im Norden warm und feucht zu machen. Es wurden bereits die ersten automatischen Sternenschiffe entsandt, während die Wälder des Nordens wie in Gedanken versunken dalagen und die vom Menschen unberührten blauen Weiten sich wie ehedem nach allen Seiten, nach allen vier Himmelsrichtungen erstreckten.
    Der Raketenstartplatz im Norden wurde innerhalb von zwei Jahren errichtet. Es wurden Straßen angelegt, Überlandleitungen verlegt, Häuser gebaut – eine kleine Stadt, geschützt vor den winterlichen Winden durch elastisches Glas und Plastikmaterial.
    Man sprach davon, Neutronenraketen könnten mit der Zeit die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde verändern, die astronomischen Konstanten außer Kraft setzen. Und siehe da – man fand einen Ausweg! –, die Schwertransportlinien wurden nach Norden verlegt. Gerade hier spürte die Erde die Raketenstöße am wenigsten. Doch man sprach auch noch von etwas anderem: ein Raketenstartplatz, das ist eine gigantische Fläche von Straßen, Flughäfen, das sind Startbahnen für Lastraketen, Basen für Radaranlagen und Radioteleskope, und wo gibt es am meisten unbebautes Land? Natürlich im Norden.
    Über das Projekt war schon vor zwanzig Jahren gesprochen und geschrieben worden. Es hätte den Anschein haben können,

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