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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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    Copyright © 1976 by Verlag Molodaja Gwardija, Moskau
    aus »Krasnye koni« (»«)
    mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Allunionsagentur für Urheberrechte der UdSSR (WAAP)
    Aus dem Russischen übersetzt von Annemarie Kienpointner
    Illustriert von Klaus Porschka

 
Tais Teng
Die Aussicht von hochgelegenen Plätzen
     
1
     
    Onno de Feyter fand sie auf der Spitze eines windigen Hügels.
    Sie suchen die hochgelegenen Plätze auf, dachte er. Immer wieder. Sie wollen eine weite Aussicht, weil es das letzte ist, was sie sehen.
    Die Maschine stand an einem verwitterten Granitblock. Die Instrumentenkonsole war noch eingeschaltet. Eine orangefarbene Wolke schwebte zitternd von links nach rechts über den Bildschirm und wischte eine Jahreszahl nach der anderen entlang der X-Achse aus.
    Sie schaute über den Golf von Mexico, eine kleine Frau, die so kerzengerade stand, daß er in seinem eigenen Rücken ein unangenehmes Stechen spürte. Sie drehte sich nicht um, als sie die Kiesel hinter sich knirschen hörte. Trotzdem mußte ihr klar sein, wer er war. Die einheimische Bevölkerung trug selbst keine Sandalen. Nur die schweren Stiefel eines Konservators konnten so ein Geräusch erzeugen.
    »Es war so schön«, sagte sie. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie bebte, versuchte jedoch angestrengt, sich unter Kontrolle zu halten. Ihr Anblick rührte ihn. Wie ein weiblicher Moses hatte sie ihr Volk aus dem Tal der Vergessenheit geführt, und nun würde sich ihr gelobtes Land innerhalb weniger Minuten wie eine Luftspiegelung auflösen, und selbst die Luftspiegelung würde später nie existiert haben.
    Der Meerespalast von Chimotec IV. erhob sich so massig, daß die dünne Linie des Horizonts sich unter seinem Gewicht durchzubiegen schien. Selbst aus dieser Entfernung waren die Palastgärten wie Smaragdstreifen sichtbar, und seine Tempel und Lusthöfe leuchteten wie aus rotem Kupfer gegossene Wolken. Die durchsichtigen Segel waren Sechsecke aus strömendem Wasser, die sich gerade noch vor dem kühlen Blau des Himmels abhoben. Jedes Segel war viele Hektar groß. »Zwölf Kilometer lang«, sagte sie. »Ein vollkommeneres Avalon, das zu den goldenen Pagoden von China segelt.«
    »Hier trägt China einen völlig anderen Namen«, sagte er schroff. »Und Barbaren haben die Goldfolie von den Pagoden geschält. Sie rösteten die heiligen Pfauen über brennenden Schriftrollen. Sie schmeckten ekelhaft. Brennendes Pergament erzeugt einen fettigen schwarzen Rauch.«
    »Ich habe versucht, nach Hause zu kommen«, sagte sie. Das klang nicht wie eine Entschuldigung, sondern eher, als versuche sie das Vorgefallene jemandem zu erklären, der nicht verstehen konnte, was »zu Hause« bedeutete.
    »Dies ist nicht deine Welt«, sagte er. »Es ist niemandes Welt.«
    Sie schob seine Hand weg und schaute ihn voller Verachtung an. Die Irisse ihrer Augen wirkten eigentümlich blau im Verhältnis zum tiefen Braun ihres indianischen Gesichts. »Welt? Chikanos haben keine Welt! Mein Vater war Landarbeiter. Er arbeitete, bis er in der Dunkelheit seine Hände nicht mehr sehen konnte. Eines Tages fuhr ein Mordkommando in zwei Jeeps durch unser Dorf. Sie schossen ihre Maschinenpistolen in die Türöffnungen leer. Sie hielten nicht einmal an, um nachzuschauen, wen sie da ermordet hatten. Durch das Knattern ihrer Waffen hindurch hörte ich sie singen. La Cucaracha. Ich glaube nicht, daß sie betrunken waren. Es waren keine Weißen, sondern gewöhnliche Bauernjungen.«
    Sie sprach schnell und monoton, als ob sie Dinge erzählen würde, die zu überwältigend und zu grausam gewesen waren, als daß sie noch etwas dabei empfinden könnte. »Mein Vater lebte noch bis zum nächsten Morgen. Er wimmerte unaufhörlich, in leisen, kurzen Stößen. Sein Rückgrat war an zwei Stellen zersplittert. Meine Schwester war auf der Stelle tot.«
     
    Er warf einen Seitenblick auf den Bildschirm: Die orangefarbene Wolke berührte fast das Heute. »Komm!« sagte er. Er schaltete die Muskelverstärkung seines Anzugs ein und zog die Frau in Richtung ihrer Zeitmaschine – eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn sie wehrte sich nicht.
    Mit seiner Linken drückte er auf die »Zurück«-Taste. Ihre Maschine verschwand im Zeitstrom und würde erst wieder auf der Hauptbasis im Präkambrium auftauchen. Er winkte seine eigene Zeitmaschine herbei. Sie glitt über den festen Sandboden und fuhr zwei Liegen aus. Er setzte die Frau vor sich und ließ die

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