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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Sicherheitsgurte einschnappen.
    »Laß mich hier!« sagte sie plötzlich.
    »Nein, es gibt kein Hier.« Er schaltete das Schutzfeld ein, so daß sie für den Bruchteil einer Sekunde außerhalb dieser Realität blieben. Der Bildschirm wurde zu einer Fläche aus solidem, flackerndem Orange.
    Er spürte, wie sich hinter ihm der Meerespalast auflöste. Ihn überkam jenes Gefühl von unmittelbarem und endgültigem Verlust, das alle Konservatoren kannten. Etwas Unersetzliches war aus der Welt entfernt worden. Er wandte sich nicht um. Wahrscheinlich war der Horizont leer, und diese Art von Schmerz hatte er schon zu oft erlebt. Der Meerespalast würde noch wochenlang durch seine Träume spuken.
    Er drückte so vehement auf die »Zurück«-Taste, daß seine Fingernägel dabei umknickten. Der stechende Schmerz war ihm willkommen.
    Er erinnerte sich an den Vergnügungspavillon des Kublai Khan: Tausende von farbigen Seidenschleiern, die von Heißluftballons in Form heraldischer Drachen in der Luft gehalten wurden. (Doch die Leibwächter waren einen Kopf größer gewesen als alle anderen Gefolgsleute des Khans, und ihre Stäbe hatten Schichten von kohärentem Licht erzeugt. Nachdem die Konservatoren sie eliminiert hatten, war dieser Lusthof nur noch eine Vision gewesen.)
    Er erinnerte sich an die Zitronenwälder von Cibola und an die hellenische Gemeinschaft, die schlanke Türme in den dämmrigen Kratern des Mars errichtet hatte, während in der wahren Geschichte Karl der Große röchelnd auf seinem zugigen Sterbebett gelegen hatte.
    Soviel Schönheit!
    Ausradiert nun, für immer zerstört.
    Es waren Blumen, dachte er. Prachtvolle, aber giftige Blumen.
    Wir hüten die Geschichte. Wir erlauben nicht, daß alte Vendettas zu Ende gekämpft werden. Wir weigern uns, einmal geschehenes Unrecht vergelten zu lassen.
    Wir wachen.
    Was ist, soll sein.
    Was ist, soll sein.
    Außerhalb der Maschine flossen die Jahre dahin – die sichere, ausreichend dokumentierte Geschichte, deren Konservator er war.
    »Aber warum scheinen all die falschen Zeitspuren, die ich ausgewischt habe, soviel inspirierter als die Realität? Warum nur?«
    »Weil es Träume waren«, antwortete er sich selbst. »Die Sehnsüchte der Menschen. Und die echte Geschichte ist einfach nur, sie ist niemandes Traum.«
    »Jedenfalls habe ich meine Erinnerungen noch«, bemerkte sie.
    »Das stimmt«, gab er zu. Er gönnte ihr diese tröstliche Illusion. Wenn die Heiler der Heimatbasis sie heilen würden, würden sie ihr die Erinnerung an ihr Verbrechen sicher nicht lassen.

 
2
     
    Vor dem Fenster seines Büros riß der Meeresnebel einen Moment lang auf. Der Mond schwebte über silbernen Wogen. Er war so erschreckend groß, daß eine ausgebreitete Hand ihn gerade noch bedecken konnte. Die wenigen Krater waren mit bloßem Auge sichtbar.
    Erst vor zwei Jahrhunderten war der Mond eingefangen worden. Er würde sich der Erde noch viel mehr nähern, bevor er schließlich zurückweichen und zu jener minimalen Scheibe zusammenschrumpfen würde, die den Nachthimmel des 20. Jahrhunderts erleuchtete.
    Er gab die letzten Zeilen seines Dossiers ein: »Das Virus stammt aus dem 21. Jahrhundert. Wien, Madrid und London waren die Seuchenherde. Europa verlor 99,98 Prozent seiner Bevölkerung, was mit den Spezifikationen dieser Biowaffe übereinstimmt. Asien blieb weitgehend verschont, da das Virus ausschließlich für die Anwendung gegen die Weiße Rasse entwickelt worden war. Trotzdem wurde China durch die Entvölkerung Indiens und des Mittleren Ostens schwer getroffen (siehe S. 12).
    Die dadurch entstehende Tolteken-Zivilisation würde jedoch auch in dieser Zeitspur durch das Auftauchen der Azteken vernichtet werden. D.E. ließ im ursprünglichen Stammesgebiet der Azteken eine Kernwaffe (4 Megatonnen) detonieren.
    Beschreibung der Tolteken-Zivilisation siehe Anhang 1.
    ZUSAMMENFASSUNG: Virus eliminiert: 16. Juli 2018 – Wankatsu – China.
    Atombombe eliminiert: 5. April 1984 – Bloemfontein – Südafrika.
    Verhaftung Delores Esperanza: 23. Juni 1915 – Santa Cruz – Mexico.
    Die Geschichte folgt ihrem ursprünglichen Verlauf mit einer Abweichung von 0,000017 Prozent, was innerhalb der Sicherheitstoleranz liegt.«
    Er hinterließ seinen Daumenabdruck und schaltete das Eingabegerät aus.
    Delores Esperanza hatte zwölf Jahre für die Konservatoren gearbeitet. Nie hatte sie eine Spur von Labilität gezeigt. Ihr hoher Dienstgrad ersparte ihr die Verbannung auf einen Strafplaneten.

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