Labyrinth 02 - Das Labyrinth jagt dich
hast keine Haare und ehrlich gesagt, siehst du ein wenig merkwürdig aus, mit all den Bildern im Gesicht und auf deinem Schädel.«
»Das sind Tätowierungen, mein ganzer Körper ist voll davon.«
»Was bedeuten sie?«
»Ich kann mein Gesicht nicht sehen, wie sieht es denn aus?«
León zuckte zusammen. Das war es. Das war die Lösung. Sein Gesicht war mit Zeichen, Zahlen und Buchstaben bedeckt. Irgendjemand hatte davon gesprochen, ihm die Tätowierungen beschrieben, aber sosehr er sich auch den Kopf zermarterte, es wollte ihm nicht mehr einfallen.
Der erste Tag. Nichts.
Die Nacht im Wald. Nichts.
Der Marsch durch die Steppe. Nichts.
Dann die Bäume und den Bach, an dem sie gerastet und die zweite Nacht verbracht hatten. Er sah sich selbst zum Bach gehen, an der Stelle, an der er niederkniete, war das Wasser nicht geflossen, sondern hatte wie bei einem Teich ruhig dagelegen. Er beobachtete, wie er die Hand mit der leeren Wasserflasche ausstreckte, um sie zu füllen.
Bevor meine Hand eintaucht, was sehe ich? Ich weiß, dass ich mein Gesicht betrachtet habe. Was sehe ich?
Ein leicht verzerrtes Bild erschien in seinem Geist. León schaute auf sein eigenes Spiegelbild, er sah die zwei Buchstaben und die zwei Zahlen auf seiner Stirn, aber da sie verkehrt herum waren, dauerte es einen Augenblick, bis er sie entziffert hatte.
Damals hatte er nicht weiter darüber nachgedacht. Er war zu erschöpft von dem Marsch durch die heiße Steppe gewesen. Halb verdurstet, aber nun war sein Kopf klar.
Die Lösung des Rätsels stand auf seiner Stirn.
León erhob sich mit dem bitteren Geschmack von Adrenalin im Mund. Als er die Buchstaben und Zahlen auf der Wand antippte, glitt nicht einfach eine weitere Tür auf. Nein, er hatte auch das Gefühl, dass die Tür zu seiner Vergangenheit nun weit offen stand. Er wusste, dass diese unscheinbaren Buchstaben und Zahlen in seinem früheren Leben eine große Bedeutung gehabt hatten.
León hatte so fest die Zähne zusammengepresst, dass seine Lippe erneut aufplatzte. Erst jetzt bemerkte er, dass er nicht in einem geschlossenen Raum stand, sondern auf einen langen Gang blickte, der sich links und rechts erstreckte.
Por fin! Endlich! Er hatte es geschafft, er war den Mauern und den schrecklichen Erinnerungen an Mischa entkommen. Jetzt konnte er sein Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen.
Jenna beugte sich erneut zu Mary hinab.
»Du musst jetzt aufstehen, Mary«, sagte sie sanft. Ihre Hand streichelte über das schwarze Haar.
Marys Gesicht tauchte aus ihrer Armbeuge auf. Die Tränen waren versiegt, ihr Blick einigermaßen klar.
»Ich weiß«, sagte sie tonlos. »Wir müssen weiter, die Tore finden.«
Jenna war erstaunt, hatte sie doch gedacht, dass Mary nun willenlos sein würde, unfähig weiterzugehen, in Selbstmitleid und Trauer versank. Stattdessen stand Mary auf und blickte sie an.
»Du hast recht: Ich lebe. Und León hätte es gewollt, dass ich weiterkämpfe. Er hätte niemals zugelassen, dass ich aufgebe«, sagte Mary leise.
Jenna nahm Marys Hand in ihre und drückte sie fest.
Dann gingen sie gemeinsam zu Jeb und Mischa hinüber.
»Wir sollten weitergehen«, erklärte Jenna. »Ich denke, die Tore sind nicht mehr weit. Es kann kein Zufall sein, dass wir uns wiedergefunden haben – in einem Gang, der uns doch einfach irgendwo hinführen muss. Wahrscheinlich war es genauso geplant.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Die Zeit läuft gegen uns und wir wissen nicht, wie weit der Countdown inzwischen heruntergelaufen ist.« Sie schaute fragend Mischa an.
»Ich habe den Countdown zuletzt bei 11 Stunden 24 Minuten gesehen, aber seitdem sind Stunden vergangen«, erwiderte Mischa.
Sie gingen los. Es gab ohnehin nur eine Richtung, die sie nehmen konnten, Mischa und Mary liefen voraus. Jenna blieb bei Jeb. Die Begegnung mit Mischa und die Nachricht von Leóns Tod schienen ihn abgelenkt zu haben. Sein Gesicht wirkte nicht mehr so wächsern und sein Blick nicht mehr so weggetreten. Sie musterte ihn eine Weile von der Seite, wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
»Meinst du, es geht bei dir?«, fragte sie schließlich leise.
»Denke schon. Ich fühle mich nicht mehr ganz so schwach. Im Augenblick habe ich die Kontrolle, es hilft, dass andere Menschen um mich herum sind, dass du da bist.« Er lächelte sie schüchtern von der Seite an.
Jenna lächelte zaghaft zurück, aber dann wurde sie wieder ernst. Sie blickte auf die beiden vor sich. Mary und Mischa
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