Labyrinth der Puppen: Thriller (German Edition)
den Fingern. Eine fette, weiße Made.
In den nächsten zwei Tagen warten wir auf ein Zeichen, darauf, dass sich etwas tut. Auf eine Nachricht, eine Einladung – oder auch nur, dass die Wachmannschaft hereingestürmt kommt und uns verhaftet. Aber nichts geschieht. Langsam geht uns wieder die Luft aus, wie übereifrigen, übermäßig aufgepumpten Ballons, als uns nach und nach klar wird, dass ich uns natürlich nicht hineingebracht habe, dass ich nichts als eine Made in meinem Haar gefunden habe.
Rhoda schläft sehr viel. Ich bin zu rastlos, um zu schlafen. Ich versuche zu lesen, kann mich aber nicht konzentrieren. Unruhig streife ich durch den verlassenen Flügel des Einkaufszentrums, suche nach etwas, das wir übersehen haben. Ich schaue zur Decke, in das runde Loch, das wir schon 1000-mal betrachtet haben, aber in dem Loch sehe ich einen Schatten, der mir vorher noch nie aufgefallen ist. Ich nehme eine brennende Latte aus dem Feuer und halte sie so hoch, wie ich kann, und dort, am äußersten Rand des von der Flamme erfassten Bereichs, ist der Schatten, den ich gesehen zu haben glaubte. Eine eckige Metallsprosse in der Wand des Schachts.
Ohne Rhoda zu wecken, schiebe ich den Reinigungswagen unter das Loch, um ihn als improvisiertes Gerüst zu benutzen. Er ist gerade hoch genug, um die Sprosse zu erreichen. Ich ziehe mich hinauf. Es ist ein Kanalisationsschacht, der senkrecht nach oben führt. Ich muss an den endlos langen Schacht denken, den wir auf unserem Weg auf die andere Seite hinuntergestiegen sind. Der hier kann sicherlich nicht sehr weit führen, aber trotzdem keimt so etwas wie Hoffnung in mir auf.
Über mir erkenne ich nur die nächsten acht Sprossen. Jede ist eine gute halbe Armlänge von der anderen entfernt, und sich dort hochzuziehen, erweist sich als extrem anstrengend. Wie eine Serie von Klimmzügen. Ich zähle die Sprossen. Beim Klettern wird der Lichtkreis unter mir immer kleiner, bis nur noch ein Klecks in Größe einer Münze zurückbleibt. Ich greife nach Sprosse Nummer 49, als ich gegen den Deckel stoße. Ein Kanaldeckel aus Beton, ziemlich schwer, also drehe ich mich vorsichtig um und drücke mit Schultern und Rücken nach oben, bis er nachgibt. Noch ein Stoß, dann ist da ein kleiner Spalt, und danach ist es kein Problem mehr, den Deckel beiseitezuschieben und hinauszuklettern.
Eine Brise umweht mich, die Luft erscheint mir frischer als alles, was ich jemals geatmet habe. Ich sauge meine Lunge voll und atme das wiederaufbereitete Gift von drinnen aus. Ich befinde mich auf einem schmalen Vorsprung mitten in der glatten Außenwand der Highgate Mall. Der Vorsprung ist etwa einen Meter tief und mehrere Meter breit, und der einzige Weg führt hier senkrecht nach unten. Das müssen 30 Meter oder mehr sein. Die gigantischen Neonreklamen der großen Läden flackern über meinem Kopf. Edgars, Only Books, Woolworths, sie alle preisen sich dem Gewühl tief unter mir an.
Ich setze mich mit dem Rücken an die Wand und schaue in Fernen, die ich seit Wochen nicht mehr gesehen habe. Eine Herbstdämmerung, ein staubiger Sonnenuntergang in Johannesburg; ich erkenne den fernen Horizont in seinem leuchtenden Orange. Ich sehe die Rauchfahnen einiger Steppenfeuer im Norden der Stadt, den Dunst von Kochfeuern, die Abgase der Autos, die sich ungeduldig auf der Hauptstraße unter mir drängeln. Die schwarzen Silhouetten heimkehrender Vögel zeichnen sich scharf am Himmel ab und Straßenlaternen und Hausbeleuchtungen überall in den Vorstädten flimmern hinter Blättern, die in der Brise schaukeln.
Noch einmal atme ich tief ein, um jedes Molekül des abgestandenen Sauerstoffs in meinem Blut und meinen Organen durch frische Luft zu ersetzen. Ich denke an Rhoda, 49 Sprossen unter mir, wie sie da liegt, eingekuschelt in ihren Haufen aus staubigen grauen Abdeckplanen. Ich wette, sie träumt von Halogenstrahlern, die von Marmorfliesen reflektiert werden, von Champagner und Kanapees, von poliertem Messing und Kristallfassaden. Wir sind uns sehr ähnlich, sie und ich. Wir haben uns da drinnen eine Fantasiewelt erschaffen, aber dies hier ist die reale Welt, hier draußen, dort unten. Der dichte Verkehr, die blinkende, verlockende Werbung. Jener andere Ort hat nie existiert. Wir können nicht entkommen. Dies hier ist die Welt, in der wir leben.
Ich atme noch ein paarmal tief durch, beobachte, wie der Himmel sich orange, dann rot und schließlich lila verfärbt, schaue zu, wie die letzten Vögel nach Hause
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