Labyrinth der Spiegel
ich auf etwas anderes gehofft habe«, bringe ich heraus. »Dass du nicht nur nimmst … riechst und schmeckst, Wörter und Farben speicherst, sondern uns auch etwas beibringst … Nein, natürlich nicht, wie man die Wolken vertreibt oder eine Grippe behandelt … sondern: gut zu sein.«
»Leonid, gut , das ist nur ein Wort. Wenn ich kein Lebewesen umbringe, liegt das weniger an meiner Moral, als vielmehr an meiner Physiologie.«
Das war’s nun endgültig.
Immer habe ich eine Antwort gesucht, ein Ideal, wollte ich Wunder entdecken, für die es auf der Erde schon seit langem keinen Platz mehr gibt. Und mir war scheißegal, ob es sich bei diesem Wunder um einen Außerirdischen von einem anderen Stern oder um ein Produkt des Netzes handelt. Der Mann Ohne Gesicht hat das vermutlich ganz genau gewusst, als er mich ins Labyrinth geschickt hat.
Nur dass Wunder sich einen Dreck um uns scheren. Ein Wunder, das ist sozusagen der Alien unter den Aliens. Es kann gut sein, es kann aber auch einen satten Rülpser ausstoßen.
»Wenn ich versuchen würde, euch meine Ethik zu erklären«, sagt der Loser, »dann müsste ich auf physikalische Gesetze und mathematische Formeln zurückgreifen. Aber wenn ich euch unsere Wissenschaft erklären wollte, müsste ich Gedichte und Gemälde schaffen. Ist dir die Tragweite dessen klar? Wir unterscheiden uns eben nicht dadurch, dass wir unterschiedlich weit entwickelt sind.
Wir unterscheiden uns grundsätzlich . Wir können nichts voneinander lernen. Das, was ich bei euch bekommen habe, sind nur Erinnerungen. Emotionen. Aber du glaubst doch nicht etwa, dass sie in der Form erhalten bleiben, die ihr Menschen kennt?«
»Doch, das habe ich eigentlich angenommen.«
»Dann hast du dich geirrt, Leonid. Ich werde euch bald verlassen, und dann werden diese Erinnerungen sich ändern. Genau wie ich selbst und mein Gedächtnis.«
Ich gehe zum Fenster hinüber und blicke hinaus. Da unten funkeln die Lichter Deeptowns. Was sagst du dazu, Mann Ohne Gesicht? Haben wir Menschen wirklich nichts von dem Loser zu erwarten? Ich habe Erwartungen an ihn gehabt. Und? Wurden sie erfüllt?
»Nehmen wir einmal an«, ergreift Vika hinter mir das Wort, »dass du die Wahrheit sagst, Loser. Dass du wirklich ein Alien bist. Ein Außerirdischer von einem anderen Stern. Den rein gar nichts mit uns Menschen verbindet. Dann erklär mir doch mal …«
Vielleicht fängt selbst Vika nun langsam an, ihm zu glauben, auch wenn sie sich noch hinter der Wendung »nehmen wir einmal an« versteckt und den Loser erst zu seiner Ethik und Kultur, zur Konstruktion seines Schiffs und den Prinzipien des interstellaren Reisens befragen muss.
Gut, wenn das ihr Weg ist …
»Ich lasse euch kurz allein«, teile ich ihnen mit, ohne mich umzudrehen.
Vika protestiert nicht, vermutlich glaubt sie, ich wollte die Tiefe verlassen.
Weit gefehlt …
Ich schiebe die Hand erst durch die designte Wand, dann durch das designte Fenster, mache einen Schritt – und finde mich über der Stadt wieder. Über den Gebäuden, Reklamen, Fußgängern und Autos.
Mich gibt es nicht mehr, mein Körper hat sich aufgelöst. Ich gleite einfach durch die Luft.
Als wären sämtliche Hacker-Träume und Fantasien von Hollywood-Regisseuren in Erfüllung gegangen. Das ist die virtuelle Welt, wie sie sein soll. Freiheit der Richtungen und Formen.
Vorwärts!
Ich beschreibe einen Kreis über einem der Paläste von Microsoft, einem monströs angeschwollenen Bau voller Fenster. Im Flug gehe ich tiefer und peile den Eingang nach Lórien an.
Dafür muss ich hier entlang, diese Straße …
Ich nehme an, die Menschen, über deren Köpfe ich dahinschieße, sehen mich nicht. Indem ich von Server zu Server springe, bewege ich mich schneller als die Taxis des Deep-Explorers fort.
Was suche ich eigentlich? Spuren jenes Kampfes, der hier vor ein paar Stunden getobt hat? Als ob die virtuelle Zeit nicht verknäult wäre! Als ob du ohne weiteres ein einzelnes Ereignis aus ihr herausfischen könntest! Trotzdem muss ich es versuchen.
Da!
Die Bruchbude der Elben. In der leeren Straße leuchtet weit hinten ein Taxi, das gerade davonfährt.
Ich lande auf dem Gehsteig und verwandle mich in einen Menschen.
Die Leichen von Dibenkos Bodyguards sind bereits verschwunden. Entweder sind sie weggebracht worden oder zerfallen. Da, wo der Werwolf gegen den Mann Ohne Gesicht gekämpft hat, ist der Asphalt noch immer geschmolzen und eingedrückt. Das ist der einzige Hinweis.
Was
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